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Perspektiven zu Schir Haschirim – Pessach 5783

Perspektiven zu Schir Haschirim – Pessach 5783

 

Der Schulchan Aruch [490:9] bringt den Brauch, dass am Schabbat-Pessach, die Rolle Schir Haschirim gelesen wird.

Deshalb bringen wir Gedanken dazu aus den Schriften des Sfat Emet sZl.

 

Aus DJZ, 14. Nissan 5759 – 31. März 1999

“קול דודי הנה זה בא מדלג על ההרים מקפץ על הגבעות”

Kol Dodi hinej se ba, medaleg al Heharim, mekapez al Hagewa’ot

 

Der Midrasch versteht diesen Passuk (Vers) קול דודי… in Schir Haschirim [2, 8] als Hinweis auf die Erlösung aus Ägypten, die vorzeitig erfolgte – “Hört ihr die die Stimme meines Geliebten (Haschem)? Siehe da kommt er! Er springt über die Berge, hüpft über die Hügel”. Obschon der Ewige Awraham Awinu vorausgesagt hatte, dass “seine Nachkommen während vierhundert Jahren in einem fremden Land versklavt sein würden”, sagt der Midrasch [Jalkut Schimoni 986] dazu, überwand G-tt bereits nach 210 Jahren alle Hindernisse (springend über die Berge) und erlöste uns früher als vorausgesagt aus der Knechtschaft.”

Weshalb war dieser Schritt gerechtfertigt? Wenn das Verhängnis vierhundert Jahre dauern sollte, wie konnte es dann auf 210 Jahre reduziert werden? Der Midrasch erklärt, dass die “Berge und Hügel” in diesem Passuk sich auf die “Awot (Patriarchen) und Imahot (Matriarchen)”, die Vorfahren des jüdischen Volkes, beziehen. Haschem “sprang”, das heisst Er reduzierte die vierhundert Jahre auf 210 Jahre im Verdienst der Awot, und Er “hüpfte” im S’chut der Imahot. Diese Idee, dass die späteren Generationen von den Verdiensten der früheren Generationen profitieren können, wird auch am Anfang der Schemone Essrej erwähnt: “wesocher Chassdej Awot”, Haschem gedenkt  die Frömmigkeit der Vorväter, “umewi Go’el Liwnej Wenejhem”, und bringt den Erlöser ihren Enkelkindern.

Wir müssen aber diese Idee richtig verstehen. Weshalb sollte Haschem unwürdige Kinder aus der Sklaverei Ägyptens vorzeitig erlösen, nur weil frühere Generationen Verdienste erworben haben?

Die Antwort kann evtl. darin gefunden werden, dass die Vorväter bereit waren, mehr zu leisten, als Haschem von ihnen verlangte. Insbesondere hielten sie die Tora bereits, bevor sie dem jüdischen Volk am Berg Sinai gegeben worden war. Deshalb war es richtig, dass Haschem die strikten Massstäbe des Rechts ausser Kraft setzte und das Volk 190 Jahre früher erlöste, um so den Vorvätern ihre Verdienste zu vergelten.

Wenn wir aber dieser Überlegung folgen, weshalb benutzt dann der Passuk Ausdrücke wie “springen” und “hüpfen”, als ob schwierige Hindernisse zu überwinden gewesen waren? Nach dem bisher Gesagten lag doch eine vorzeitige Erlösung völlig im Rahmen des “normalen G”ttlichen Vorgehens”? Anderseits hatte denn Haschem nicht bereits die Frömmigkeit der Awot berücksichtigt, als Er ihre Nachkommen zu 400jähriger Knechtschaft verurteilte?

Nur, die vierhundert Jahre waren tatsächlich gerechtfertigt, selbst wenn man die Verdienste der Vorväter berücksichtigt, die reduzierte Züchtigung auf 210 Jahren war aus folgendem Grund:

Der Zusammenhang zwischen den Patriarchen und ihrer Nachkommen ist viel tiefer, wenn wir diesen Passuk genauer anschauen. Die Verwendung des Wortes “medaleg” in der kausativen Form (jemanden zu etwas veranlassen) lässt sich so verstehen, dass Haschem andere zum Hüpfen veranlasste, sonst müsste “doleg” stehen. Ebenso ist das Wort “mekapez” so zu verstehen, dass Haschem das jüdische Volk springen liess, sonst müsste “kofez” stehen. Zur Zeit des Auszugs aus Ägypten ermöglichte Haschem es den Benej Jisrael, mit einem Sprung ein höheres geistiges Niveau zu erreichen, als sie zuvor erreicht hatten.

Diese beiden Worte, “medaleg” und “mekapez”, weisen auf eine besondere Beziehung zwischen Haschems Aktionen und den unseren hin. Haschem “sprang” über die Hindernisse der Geschichte, um 400 Jahre der Versklavung in 210 Jahre zusammenzufassen. Im Gegenzug “übersprangen” wir die Barrieren unseres Herzens, überwanden die Grenzen unserer Sklavenmentalität, um Diener von Haschem zu werden. Bei Jeziat Mizrajim wurden wir plötzlich erwachsen. In einem einzigen kurzen Tag zogen wir von Ramses, Ort der sinnlosen Versklavung (wo das jüdische Volk Vorratshäuser für Pharao bauen musste) nach Sukkot, wo die G”ttlichen Wolken zum ersten Mal das jüdische Volk beschützten.

Die Verwendung der Form “medaleg”, zum Springen veranlassen, weist darauf hin, dass dieser Quantensprung – von Pharaos Sklaven zu Haschems Diener – ohne G”ttliche Hilfe und ohne Vorbilder, denen wir folgen konnten, unmöglich gewesen wäre. Wenn es je Menschen gab, die “sprangen”, die ihre grossen geistigen Höhen durch Selbstaufopferung erreichten, dann waren dies unsere Awot und Imahot. Dies mag die Bedeutung des erwähnten Midrasch sein. Haschem führte die Erlösung schneller herbei, nicht nur im Verdienst der Awot, sondern weil diese Vorbilder uns vorgezeigt hatten, wie man schnell zu grossen Höhen emporsteigen kann.

Wenn wir Schir Haschirim am Pessach lesen, drücken wir damit unsere feste Hoffnung aus, dass auch wir dem Vorbild der Awot folgen und mit einem Sprung höhere Madregot (geistige Stufen) erreichen können.

Gibt es überhaupt eine schönere und bessere Form der Erlösung als geistiges Wachstum? Der Prophet Malachi sagte voraus: והשיב לב אבות על בנים [3, 24], und er, Elijahu Hanawi, wird das Herz der Väter den Kindern zuwenden. Er wird die späteren Generationen dazu bewegen, dass sie die geistigen Höhen der Vorväter wieder erreichen wollen. Haschem hat die Erlösung bereits einmal schneller kommen lassen; wir haben allen Grund zu glauben, dass Er es noch einmal machen wird, wie der Prophet Micha sagte: כימי צאתך מארץ מצרים אראנו נפלאות [7, 15], Ich werde dir Wunder zeigen, Wunder für dich machen, wie Ich sie während der Tage gemacht habe, als du aus Ägypten gezogen bist.

Ein weiterer Gedanke: Dieser Passuk bezieht sich sowohl auf die vergangene Erlösung aus Ägypten als auch auf die zukünftige Erlösung durch Maschiach. Der Anfang unseres Passuk in Schir Haschirim bezieht sich auf die Erlösung aus Ägypten – Er “sprang” über die Berge, um uns aus der Sklaverei Ägyptens zu befreien. Der Satzteil “hüpfte über die Hügel” lehrt uns, dass die endgültige Erlösung ebenfalls in Eile stattfinden wird. Es mag sogar sein, dass die Erlösung durch Maschiach noch schneller erfolgen wird als diejenige aus Ägypten. Das Wort “mekapez”, hüpfen, wird von Raw Schne’ur Salman sZl. (erster Lubawitscher Rebbe) [Likutej Tora Schir Haschirim] als ein schneller Sprung mit beiden Füssen verstanden, während “medaleg”, springen, als eine Bewegung mit lediglich einem Fuss verstanden wird. Haschem half uns, aus Ägypten zu springen, während Er uns “hüpfen” lassen wird, in einem viel schnelleren Mass, wenn die endgültige Erlösung kommen wird.

הנה זה עומד אחר כתלנו משגיח מן החלונות מציץ מן החרכים

Hinej Se omed achar Kotlejnu, maschgiach min Hachalonot, mejziz min Hacharakim.

Siehe, da steht Er hinter unserer Mauer, schaut durch die Fenster, blickt durch die Spalten [2, 9]

Dieser Passuk lässt uns wissen, dass das jüdische Volk selbst in seinem Galut (Exil) nicht von Haschem verlassen wurde. Er beobachtet es von einem Platz hinter der Mauer, durch die Fenster oder durch die Spalten. Wenn Menschen auf beiden Seiten eines Fensters stehen, können sie sich gegenseitig sehen. Aber ein Spalt in einer Mauer lässt nur Sicht in die eine Richtung zu – wer durch den Spalt blickt, kann von der anderen Seite nicht gesehen werden.

Auch im Leben blickt Haschem manchmal auf uns, ohne “gesehen” zu werden – wenn Seine Haschgacha verborgen und unkenntlich ist – während in anderen Zeiten ein gegenseitiger Blick möglich ist, Er blickt auf uns durch Sein “Fenster”, während wir Seine Präsenz “sehen und erkennen” können und uns bewusst ist, dass Er uns sieht. Diese zwei Arten der Erkenntnis können in vielen Aspekten des jüdischen Lebens festgestellt werden. So ist zum Beispiel Haschems Beziehung zu Zaddikim (Frommen, Gerechten) vergleichbar mit derjenigen der zwei Menschen an einem Fenster, die sich gegenseitig sehen können. Die weniger g-ttesfürchtigen Menschen werden von Haschem gesehen, können aber Seine Präsenz nicht so klar erkennen.

Dieses Gleichnis kann man auch in Bezug auf den menschlichen Körper verstehen: Haschem sieht in den verborgensten Winkel unseres Körpers, wir aber können Ihn nur durch die sieben Körperöffnungen “erfahren”, den Mund, die beiden Augen, die Ohren und die Nasenlöcher. Diese sensorischen Organe erlauben uns auch, die materielle Welt zu erfahren, die von der Existenz ihres Schöpfers zeugt.

Das Gleichnis des Passuk trifft auch auf das jüdische Kalenderjahr zu. Während der Woche blickt Er auf uns durch “Spalten”, die es uns nicht gestatten, Ihn ebenfalls zu sehen. Am Schabbat und den Jamim Towim (Festtage) dagegen gibt es ein gegenseitiges Erkennen, wie durch ein “Fenster”. Dies war besonders spürbar während der Zeit des Bejt Hamikdasch (Tempel), als das Volk an den drei Wallfahrtsfesten “ole regel” war (nach Jeruschalajim pilgerten). Aber sogar heute spüren wir die erhöhte Heiligkeit und Bedeutung dieser Jahreszeiten.

Die Gemara (Talmud Traktat Chagiga 2a) hält fest, dass der Passuk [Schemot 34:23] יראה כל זכורך  “jera’e” kol Sechurcha – deine Männlichen sollen im Bejt Hamikdasch “gesehen werden” – auch als “jir’e” – alle deine Männer “sollen sehen”, gelesen werden kann, das heisst sie werden Haschems Präsenz spüren. An den Jamim Towim wird uns die Anwesenheit Haschems in unserem täglichen Leben durch das neu gefundene “Fenster” immer deutlicher bewusst. Deshalb kann man auch die sieben Körperöffnungen des Menschen mit den sieben Tagen des Jomtow gem. der Tora (zwei Tage Pessach, zwei Tage Sukkot, einen Tag Schawuot und je einen Tag Rosch Haschana und Jom Kippur) vergleichen.

Und schliesslich bezieht sich dieser Passuk auch auf Orte dieser Welt. Während Er alles sieht, was auf dieser Welt geschieht, können wir nur an besonderes Orten (wie zum Beispiel im Bejt Hamikdasch, in Jeruschalajim oder in Erez Jisrael) Seine Präsenz spüren, wie Er uns beobachtet und über uns wacht.

Beschleunigung der Ge’ula (Erlösung)

In welcher Hinsicht wird aber die endgültige Erlösung schneller erfolgen als Jeziat Mizrajim? Der Midrasch bezieht sich sicher nicht auf die Dauer des Galut (Exil). Während das Galut Mizrajim abgekürzt wurde – von 400 auf 210 Jahre – kann niemand genau voraussagen, wann unser Galut enden wird. Viele Rischonim, Zaddikim, Talmidej Chachamim (Talmudgelehrte) und Mekubalim (Lehrer der Mystik) haben schon eine Vorhersage versucht, jedoch ohne Erfolg. Das gegenwärtige Galut dauert schon viel länger als wir es je erwartet haben. Was die Länge des Galut anbelangt, so haben wir gewiss keine Beschleunigung der Erlösung erleben können.

Das Konzept der Beschleunigung der zukünftigen Ge’ula bezieht sich dagegen vermutlich auf die Leiden des jüdischen Volkes, die vor der endgültigen Erlösung abnehmen werden. Die Sklaverei in Ägypten wurde zeitlich verkürzt, aber die Leiden, besonders in der letzten Phase, waren stärker als zuvor. Die Qualität des Leidens ersetzte die Quantität. Das Gegenteil wird wahr sein, wenn die endgültige Erlösung kommen wird. Als Ersatz und Wiedergutmachung für die augenfällig lange Dauer des Galut wird das intensive Leiden, das mit der Zeit unmittelbar vor der Ankunft von Maschiach verbunden ist – Chewlej Maschiach / die Wehen vor Maschiach – das so intensiv ist, dass manch grosse Talmudgelehrte ausgerufen hatten, dass sie diese Zeit nicht erleben wollen, dieses Leiden wird abgeschwächt werden. In welchem Sechut wird die endgültige Erlösung schneller herbeigeführt werden? Während die Erlösung aus Ägypten durch die Verdienste der Awot und Imahot beschleunigt wurde, ist dieser Sechut für heutige Generationen vielleicht nicht mehr vorhanden. Die Gemara (Trakteat Schabbat 55a) erklärt, dass die Verdienste der Awot von früheren Generationen in ihren Zeiten der Not aufgebraucht wurden.

Die zukünftige Ge’ula wird jedoch im Sechut der Imahot, unserer Mütter, der Mütter des jüdischen Volkes, erfolgen. Haschem wird über die Hügel “hüpfen”, über die Hindernisse, die sich Maschiach in den Weg stellen, im Verdienste der mitfühlenden Frauen, die das jüdische Volk aufbauten und ernährten. Ihr Verdienst dauert ewig an. Wir wissen, dass die Imahot von ihrem Platz im Himmel für eine schnelle Ge’ula für ihre Nachkommen dawenen.

 

Quellen und Persönlichkeiten:

  • Jalkut Schim’oni ist eine Midraschim-Sammlung. Der Verfasser ist vermutlich Rabbi Schim’on Kara, genannt Rabbi Schim’on haDarschan. Französischer Rabbiner (12. Jahrhundert) Nach         anderen Quellen aus Frankfurt a/M stammend (11. Jahrhundert); vermutlich doch erst aus dem 13. Jahrhundert. Dieses Werk ist deshalb besonders wertvoll, weil er diverse Quellen benutzt, die ansonsten teilweise oder ganz als verloren gelten, wie  Sifrej Suta, Midrasch Jelamdenu, Midrasch Awkir, Midrasch Tadsche, etc.
  • Rabbi Schne’ur Salman ben Baruch von Liadi (1745-1812); Ljosna (gest. und begraben in Hadicz)   Rabbiner, Talmudgelehrter und Begründer der chassidischen Chabad-Lubawitsch-Bewegung.     Verfasser einer systematischen Zusammenfassung der chassidischen Philosophie, bekannt als Likutej Amarim – Tanja. Ausserdem verfasste er den Schulchan Aruch haRav, seine Version des klassischen Schulchan Aruch, in dem halachische Entscheidungen und ihre Begründungen ausgeführt werden. Weitere Werke: Tora Or und Likkutei Tora – chassidische Erklärungen zu den wöchentlichen Tora-Abschnitten, Schir HaSchirim und des Buches Esther, wie Sefer haMa’amrim, auch bekannt als Ma’amarej Admor haSaken – Chassidische Erläuterungen zu div Themen.  
  • Sefat Emet: Rabbi Jehuda Leib Alter (1847 – 1905); der zweite Gerrer Rebbe; Polen. Verfasser von den Werken Sefat Emet zum Talmud und Erklärungen zum Chumasch.

 

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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