Elul/ Paraschat Nizawim
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Der Ton eines Schofars oder eines Esels? (Rosch Haschana 5786)

Gibt es Leute, die den Ton eines Schofars nicht kennen?

Der Ton eines Schofars oder eines Esels? (Rosch Haschana 5786)

Gibt es Leute, die den Ton eines Schofars nicht kennen?
Foto: AI Avigail

Der Ton eines Schofars oder eines Esels?

Rav Frand zu Rosch Haschana 5786

mit Ergänzungen von S. Weinmann

Allen Lesern unserer wöchentlichen Parascha-Beiträge, allen Besuchern unserer Website, allen Spendern und Mitarbeitern und dem ganzen jüdischen Volk wünschen wir ein gut gebenschtes, gesundes, erfolgreiches und spirituell hochstehendes Jahr!

Der Ton eines Schofars oder eines Esels?

Die Mischna sagt im Traktat Rosch Haschana [27b], dass jemand, der an der Rückseite der Schul (Synagoge) vorbeigeht, oder dessen Haus sich in der Nähe der Schul befindet, den Ton des Schofar oder die Vorlesung der Megilla (Rolle) hört, seine Pflicht erfüllt, falls er beabsichtigt, die Mizwa mit dem Zuhören der Schofartöne zu erfüllen. Wenn er dies nicht beabsichtigt, hat er die Mizwa nicht erfüllt. Die Mischna schliesst mit den Worten: Obgleich jener gehört hat und dieser gehört hat; der erstere hatte die "Absicht" die Mizwa zu erfüllen, und der andere nicht.

Der Tolner Rebbe fragt, warum die Mischna zwei verschiedene Fälle zitieren muss; den Fall der Person, die hinter der Schul vorbeigeht, und den Fall der Person, deren Haus sich neben der Schul befindet. Das Prinzip scheint in beiden Fällen dasselbe zu sein, und wir hätten eindeutig einen Fall vom anderen ableiten können. Bei vielen Ableitungen erklärt die Gemara: "Der Tanna ist nicht wie ein Hausierer, der all seine Waren vorlegen muss." Wir können mit unserem Verstand einen Fall von einem ähnlichen ableiten. Warum erwähnt die Mischna hier beide Fälle?

Der Rebbe stellt eine weitere Frage. Die Gemara [28b] will von dieser Mischna einen Beweis erbringen, dass "Mizwot zerichot Kawana" (Gebote nur erfüllt werden, wenn der Mensch, der sie ausübt, die Kawana (Absicht) hat, diese besondere Mizwa zu erfüllen). Die Gemara widerlegt diesen Beweis mit der Behauptung, dass man argumentieren kann, dass wenn die Mischna von einer "Absicht" spricht, nicht gemeint ist, die Absicht die Mizwa zu erfüllen

(was besagen würde, dass ‘Mizwot zerichot Kawana’). Es bedeutet lediglich, dass der Mensch beabsichtigt, die Töne zu hören! Die Gemara scheint diese Auslegung nicht zu akzeptieren und fragt: Was meinst du damit, "die Absicht zu haben, die Töne zu hören?" – er hört ja die Töne! Darauf antwortet die Gemara, dass er wissen muss, dass der Ton, den er hört, der Ton eines Schofars ist – und nicht der Ton eines schreienden Esels.

Diese Gemara scheint seltsam zu sein. Der Tolner Rebbe fragt: "Welcher Jude geht am Rosch Haschana an einer Schul vorbei und hört die Töne von "Tekia-Terua-Tekia" etc. und denkt sich 'hmm – dies könnte ein schreiender Esel sein?"

Ich muss zugeben, dass die Antwort, die er gibt, ein bisschen ein chassidisches Denken des Zuhörers erfordert, um voll verstanden zu werden. Der wesentliche Punkt, den er hervorbringt, ist jedoch ein sehr wundervoller und fundamentaler Gedanke.

Die Gemara [Traktat Rosch Haschana 11a] berichtet uns, dass Josef das Gefängnis am Rosch Haschana verliess, aufgrund der aufeinanderfolgenden Pessukim "Tik’u baChodesch Schofar, baKesse leJom Chagejnu - Blaset den Schofar bei der Erneuerung des Mondes, zur Zeit, die für unseren festlichen Tag bestimmt ist… Ejdut biJehosef samo… - Schmuck wurde auf Josef gelegt, als Er über das Land Ägypten hinausging…. Ich entfernte seine Schulter von der Last…" [Tehillim/Psalm 81:4-7].

Warum ist diese Tatsache für uns von Interesse? Erzählt uns die Gemara lediglich eine historische Tatsache, dass der Tag, als Josef den Kerker verliess, auf den Ersten Tag von Tischri fiel?

Antwortet der Tolner Rebbe, dass Chasal (unsere Weisen) darauf hinwiesen, dass Josef am Rosch Haschana das Gefängnis verliess, um uns etwas Wichtiges zu lehren. Ein Gefängnis in biblischen Zeiten hatte keinerlei Ähnlichkeit mit heutigen Gefängnissen. Ich spreche nicht über minimale Sicherheitseinrichtungen, die für Wirtschaftsverbrechen vorgesehen werden. Sogar in einem Hochsicherheitsgefängnis in Texas – wo es im Sommer 49 Grad heiss ist und die Gefangenen in kleinen Zellen ohne Klimaanlage leben – leben sie im Vergleich zu Gefängnissen in biblischen Zeiten in einem Palast. In biblischen Zeiten gruben sie ein Loch im Boden, ein Käfig, und warfen die Gefangenen hinein. Es gab keine Belüftung und keine sanitären Anlagen. Es war ein Leben in einem Rattenloch. Für diejenigen, die genug alt sind, um sich daran zu erinnern, denkt daran, wie die Gefängnisse für die Kriegsgefangenen, während dem Vietnam Krieg ausschauten. Dies war schon in "zivilisierten Zeiten".

Überlegen Sie sich also das Folgende: Josef befindet sich in diesem Loch mit einem Minimum an Essen, einem Minimum an Wasser, keiner Belüftung und keinen sanitären Anlagen. Mit wem befindet er sich dort? Mit dem Abschaum der Gesellschaft. Er wird dort misshandelt, weil er ein Jude ist und weil er beschuldigt wird, Potiphars Frau angegriffen zu haben.

Und doch geschieht etwas Übernatürliches. Sie nehmen ihn aus diesem Loch hinaus. Sie bringen ihn vor den mächtigsten Mann der Welt und er wird gebeten, einen Rat zu erteilen. Wussten sie nichts vom Begriff PTS (Post Traumatic Stress Syndrome / posttraumatische Belastungsstörung)? Es war ein Wunder, das Josef noch normal war. Und doch kam Josef hinaus; sie schnitten ihm sein Haar, gaben ihm neue Kleider und brachten ihn vor Pharao – den mächtigsten Mann der Welt – in Anwesenheit all seiner Berater. Sie sagten zu Josef: "Lasst uns hören, was du zu dieser Sache zu sagen hast?"

Josef schlug einen brillanten Plan vor, und innert einigen Tagen wurde er von einem Gefangenen in einem Loch zum zweitmächtigsten Mann der Welt. Über Nacht! Was sagt uns dies? Es sagt uns, dass ein Mensch, der zu den Niedrigsten der Welt gehört, fast augenblicklich die grössten Höhen erreichen kann. Er kann sich im Gefängnis befinden, und am nächsten Tag kann er praktisch die Welt regieren.

Wenn Chasal sagen, dass Josef das Gefängnis am Rosch Haschana verliess, wollen sie uns die Botschaft vermitteln, dass Menschen sich gefangen fühlen können – sie können sich von ihren Leidenschaften, ihren schlechten Neigungen, ihre Mühsal gefangen fühlen. Leider haben Menschen so viele Probleme, und dies belastet sie. Sie fühlen sich buchstäblich so, wie wenn sie mit einer Fessel umgeben sind. Die Lehre von Josef ist jedoch, dass man im Nu von den grössten Tiefen die mächtigsten Höhen erklimmen kann. Ein Mensch kann sich von seinen Peinigern und Entführern befreien, und all dies kann auf einen Schlag geschehen.

Dies ist, was Schlomo Hamelech (König Salomon) in Kohelet andeutet, wenn er sagt: "Denn vom Gefängnis zog er zum Regieren aus …" (Kohelet 4:14). Aus diesem Grund ist es so wichtig für uns zu wissen, dass Josef das Gefängnis am Rosch Haschana verliess. Es ist, weil auch wir alle unsere "Gefängnisse" an diesem Tag des Neuen Jahres verlassen können.

Mit dieser Einleitung, sagt der Tolner Rebbe, können wir nun unsere zwei ursprünglichen Fragen beantworten: Der erste Fall der Mischna ist jemand, der an einer Schul vorbeigeht und das Schofarblasen hört. Gut. Dies ist der Fall einer normalen Person. Der zweite Fall jedoch – "oder sein Haus befindet sich neben der Schul". Die Frage ist also – Wenn sein Haus sich gerade neben der Schul befindet, warum kommt er am Rosch Haschana nicht in Schul? Warum hört er den Schofar von seinem Haus aus? Die Antwort ist, dass wir über jemanden sprechen, der kein Interesse hat, in die Schul zu kommen. Dieser Mensch ist so weit von Rosch Haschana entfernt, dass wenn er das Schofarblasen hört, er meint, dass dies ein schreiender Esel sein könnte. Welcher Jude kann so etwas denken? Die Antwort ist, dass wir über einen Juden sprechen, der an diesem heiligen Tag sehr weit vom normalen Verhalten und von gesunden Gedanken entfernt ist. Trotzdem lehrt uns die Mischna dieses "Nein!" Wenn er im Handumdrehen "Hallo, dies ist ein Schofar" sagt, kann dieses Erkennen ihn aus dem Kerker hinausheben. In dieser einen Minute kann er erfahren, dass "meAschpot jarim Ewjon - Er die Armen aus dem Müllhaufen hochhebt" [Tehillim 113:7].

Wir mögen uns wundern "Wer hört am Rosch Haschana ein Ton des Schofars und denkt, dass er ein Schrei eines Esels hört?" Wissen Sie jedoch, wie viele Millionen von solchen Juden es in der Welt gibt? Ich sah einst eine Statistik, vielleicht stimmen die Zahlen nicht genau – aber es gibt 5000 Plätze in Reformtempeln in Long Island. Wissen Sie, wie viele Zehntausende von Juden in Long Island wohnen? In welche Schul gehen all diese Juden? Es hat bei weitem nicht genügend Plätze in allen Reformtempeln in Long Island für alle Juden, die dort wohnen! Wo gehen sie hin? Sie gehen nirgends hin. Sie wissen nicht einmal, dass es Rosch Haschana ist. Es gibt viele "traditionelle Juden" dort, die "zumindest" zu Eddie's in Roland Park (ein nichtkoscheres Delikatessengeschäft in Baltimore) gehen und dort ihr "traditionelles Neujahrsessen" – Zimmes (Karotten) mit Honig und Rosinen-Challa – kaufen, jedoch nicht zur Schul gehen. Über diese hinaus gibt es jedoch weitere Zehntausende Juden, die keine Beziehung zu ihrer Religion haben – nicht einmal Challa und Honig! Sie gehen am Bejt haKnesset (Schul) vorbei und kommen nicht hinein. Sie hören ein Schofarblasen aus der Schul neben ihnen und sie können sich nur wundern – was ist dieser interessante Ton?

Die Mischna lehrt uns, dass sie aus ihrer verzweifelten Situation hinauskommen können. Sie können es hören und sagen: "Hey! Das ist doch ein Schofar!" Es kann einen Eindruck auf ihr Herz machen. Sogar wir gewissenhafte und aufrechte Juden - die Tora und Mizwot beachten, Benej Tora, Studenten, die den Daf haJomi lernen und drei Mal am Tag mit einem Minjan dawenen – wir alle haben unseren "Quälgeist", und wir alle fühlen uns in gewissem Mass von unseren schlechten Neigungen und Begierden gefangen.

Rosch Haschana ist der Tag, an dem Josef das Gefängnis verliess und sich in einem Moment von einem Gefangenen zu einem Regenten verwandelte.

Ich wünsche jedem ein gesundes Neues Jahr. Wir alle sollen volle Gesundheit geniessen, mit Wohlstand gebenscht sein, Nachat von unseren Kindern und Enkelkindern haben, und sollen die vollkommene Erlösung bald in unseren Tagen erleben dürfen.

Quellen und Persönlichkeiten:

  • Rabbi Jizchak Menachem Weinberg, der Tolner Rebbe (zeitgenössischer Rebbe und Redner), leitet die Tolner Gemeinde in Jerusalem und ist ein gefragter Dozent. Verfasser von "Hejma Jenachamuni", Gedanken zum Pentateuch.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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