Elul/ Paraschat Nizawim
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Selichot: Es lohnt sich, „zuerst an der Reihe zu sein“

Selichot: Es lohnt sich, „zuerst an der Reihe zu sein“

Selichot: Es lohnt sich, „zuerst an der Reihe zu sein“

Selichot: Es lohnt sich, „zuerst an der Reihe zu sein“
Foto: AI Avigail

Selichot: Es lohnt sich, „zuerst an der Reihe zu sein“

Rav Frand zu den Selichot 5785

Mit Ergänzungen von S. Weinmann

Der erste poetische Vers, der Selichot-Liturgie am Moza‘ej Schabbat (der Anfang der Selichot vor Rosch Haschana in der Nacht von Schabbat auf den Sonntag) beginnt mit den Worten: „Be’Moza‘ej Menuchah kidamnucha techila“ („Am Ende des Ruhetages sind wir die Ersten, die Dich begrüssen“).

Der Isbitzer Rebbe, in seinem Werk “Mej Schiloach“, weist darauf hin, dass die zwei Worte „kidamnucha techila“ („wir sind die Ersten, die dich begrüssen“) den Grundgedanken der Selichot einleiten.

Wieso sprechen wir eigentlich diese Sühnegebete während vier bis zehn Tagen vor Rosch Haschanah? Genau gesehen stehen wir nicht in der Zeit der „Hohen Feiertage“, welche, technisch gesehen am Rosch Haschanah beginnen und an Sukkot enden. Was sollen die Selichot in dieser Zeit, welche genau genommen keine Zeit des Gerichts und keine Zeit der Sühne ist, eigentlich bewirken?

Der Isbitzer Rebbe gibt dazu folgende Erklärung: Je früher wir beginnen, den Allmächtigen um Vergebung zu bitten, desto erfolgreicher werden wir sein. Der Isbitzer Rebbe beweist dies anhand einer biblischen Geschichte.

David HaMelech hatte ein sehr abenteuerliches Leben. Eine der Widerwärtigkeiten, welche er erleiden musste, war die Rebellion seines Sohnes Awschalom gegen seine Königsherrschaft. In einem der dramatischsten Kapitel des ganzen Tenachs (Torah, Prophetenbücher und Schriften) [Schemuel II, Kapitel 15], ist David HaMelech gezwungen, mit seiner ganzen Familie und seinem ganzen Hof vor seinem Sohn, welcher den Thron an sich gerissen hatte, aus Jeruschalajim zu fliehen. In diesem Augenblick grösster persönlicher Tragik ergreift Schim‘i ben Gera die Gelegenheit, zum Schaden noch Spott hinzuzufügen. Er griff den König an und verfluchte ihn bitterlich. Schim‘i dachte sich in diesem Moment, dass David’s Herrschaft zu Ende sei. Schim‘i hegte einen persönlichen Groll gegen David HaMelch und verfluchte den fliehenden Monarchen erbarmungslos.

Schlussendlich eroberte David HaMelech die Herrschaft zurück und kehrte nach Jeruschalajim zurück. Alle Menschen, welche die falsche Partei ergriffen hatten und ganz besonders Schim‘i ben Gera, welcher den König verflucht hatte, fürchteten um ihr Leben. Sie verdienten den Tod auch, weil zu Zeiten der biblischen Monarchie jeder, welcher sich gegen den König auflehnte („mored be’Malchut“), die Todesstrafe erhielt. Der Rambam führt aus, dass der König solche Aufrührer auch ohne Gerichtsverfahren persönlich umbringen durfte.

Schim‘i ben Gera, wusste, dass er ein „toter Mann“ war. Was tat er? „Schim‘i, der Sohn von Gera, welcher von Bachurim war, beeilte sich und ging mit den Männern von Jehuda hinunter, um David HaMelech zu begrüssen.“ [Schemuel II 19:17] Er kam zum König und sagte ihm: „Denn dein Knecht weiss, dass er sich vergangen hat; und siehe, ich bin heute als Erster des Hauses von Josef gekommen, hinabzugehen und meinen Herrn, den König, zu begrüssen.“ [Schmuel II 19:21]

Schim‘i betonte, dass er einer der Ersten von den Tausenden war, welche David HaMelech um Mechila (Vergebung) baten. „Ich weiss, dass ich falsch gehandelt habe. Ich weiss, dass ich gegen dich gesündigt habe. Ich weiss, dass ich dafür mit dem Leben zahlen müsste. Ich entschuldige mich und es tut mir leid. Ich stelle mich nicht hinten an eine Schlange an, um dir das zu sagen. Ich möchte der ERSTE sein, welcher die Gelegenheit ergreift, meine Reue zu zeigen.“

Der Isbitzer Rebbe meint, dass wir mit unseren Vor-Rosch Haschana-Selichot genau das Gleiche tun.

Genau genommen könnten wir bis Rosch Haschanah warten, bis wir mit unseren Bitten beim Allmächtigen vorsprechen dürfen. Theoretisch könnten wir sogar bis Jom Kippur warten. Es gibt im Leben Zauderer – genau wie derjenige, der seine (US-)Steuererklärung immer im letzten Moment, in der Nacht des 15. April abgibt! Das jüdische Gegenstück zum 15. April-Steuerausfüller ist derjenige, welcher bis Ne’ilah (dem Schlussgebet von Jom Kippur) wartet, bis er seine ehrliche Bitte um Vergebung und Erbarmen an den Allmächtigen richtet.

Der Unterschied ist, dass es dem amerikanischen Steueramt egal ist, ob die Steuererklärung am 1. Februar oder am 15. April kurz vor Mitternacht abgegeben wird. Für das Steueramt ist alles einerlei, solange der Umschlag den Poststempel des 15. April trägt. Es macht jedoch einen grossen Unterschied, ob jemand genug weise ist und geistige Empfindsamkeit in sich trägt, um zu versuchen „dem Herrn der Welt frühzeitig zu begegnen“ und „vorne in der Reihe zu stehen“! Es lohnt sich, vorne in der Reihe zu stehen, sogar wenn die Sünden derart schwerwiegend sind wie diejenigen von Schim‘i ben Gera, der den König beschämte und peinigte.

Schim‘i ben Gera war das Todesurteil sicher. Aber seine Eile, den König zu treffen, zahlte sich aus. David HaMelech tötete ihn nicht. Er befahl nicht einmal seinem Sohn Schlomo (Salomon), ihn umzubringen (sondern nur bei einem neuen Vergehen). Wieso verdiente sich dieser schlechte Mensch so eine erbarmungsvolle Behandlung? Schim‘i ben Gera verdiente die erbarmungsvolle Behandlung, weil er das Geheimnis des „Zuerst-Kommens“ kannte, als er um sein Leben flehte.

Dieses Jahr gibt es 18 Tage zwischen dem Beginn der Selichot und Jom Kippur. Man kann sich fragen: Wieso rezitieren wir Selichot an diesem Moza‘ej Schabbat? Wieso diese Eile? Wir haben doch mehr als genug Zeit!

Aber da gibt es die Wichtigkeit des Frühkommens. Die ersten Worte des ersten Selichot-Gedichts an Moza‘ej Schabbat, wenn wir die ersten Gebete um Vergebung äussern, geben den Ton an: „Be’Moza‘ej Menuchah kidamnucha techila“ - „Am Ende des Ruhetages sind wir die Ersten, die Dich begrüssen“.

Es dreht sich alles darum, früh da zu sein, wenn man aufrichtig sagt und kundtut: „Es tut mir leid!“ In dieser Hinsicht wollen wir wie Schim‘i ben Gera sein: Wir wollen als Erste da sein, bevor die Massen kommen und ihre Bitten um Vergebung an den Allmächtigen richten.

Quellen und Persönlichkeiten

Rabbi Mordechai Yosef Leiner (1800 –1854); Isbitzer Rebbe. Autor des Buches “Mej Schiloach“.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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