Wochenabschnitt Paraschat Kedoschim: Wie bewirke ich günstige Entscheidungen des Allmächtigen für mich?
Rav Frand zu Paraschat (Acharej-) Kedoschim 5785
Ergänzungen: S. Weinmann
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Im Passuk in Paraschat Kedoschim steht: "Ihr sollt im Gerichtsverfahren kein Unrecht tun, nicht Rücksicht auf die Armen nehmen und nicht die vornehmen Menschen begünstigen, mit Gerechtigkeit sollst du deinen Nächsten richten" (Wajikra 19:15). Obwohl dieser Passuk sich scheinbar auf das Bejt Din bezieht – wie Richter sich verhalten sollten – sagen Chasal (unsere Weisen) im Talmud Traktat Schewuot (30a), dass die letzten Worte des Verses – "beZedek tischpot Amitecha" (mit Gerechtigkeit sollst du deinen Nächsten richten) – auch andeuten, dass ein Mensch im Zweifelsfall seinen Nächsten nach der günstigen Seite hin beurteilen soll - wie Raschi zur Stelle dies zitiert - "Hewej dan et Chawercha lekaf Sechut". Wenn du siehst, dass jemand etwas tut, das dem Anschein nach etwas Schlechtes zu sein scheint, lege es günstig aus. Versuche, "melamed Sechut" zu sein. Viele Dinge sind nicht so, wie sie uns erscheinen.
Es gibt eine bekannte Gemara in Massechet (Traktat) Schabbat (127b), die drei verschiedene Beispiele auflistet. Ich werde nur eines davon kurz zitieren. Der Talmud verdeutlicht, wie weit ein Mensch gehen muss, um jemanden günstig zu beurteilen.
Unsere Weisen lehrten: Jemand, der seinen Nächsten günstig beurteilt, wird selbst günstig beurteilt. Es gab einen Vorfall mit einem gewissen Mann, der vom Oberen Galil hinunterging und von einem gewissen Hausbesitzer im Süden während drei Jahren angestellt wurde. Am Erew Jom Kippur sagte der Angestellte zu seinem Arbeitgeber: "Gib mir meinen Lohn, und ich werde gehen und meine Frau und Kinder versorgen." Der Arbeitgeber sagte: "Ich habe kein Geld." Der Angestellte schlug vor: "Gib mir Früchte." "Ich habe keines." Gib mir ein Stück Land." "Ich habe keines." Dann gibt mir doch Vieh." "Ich habe keines." "Dann gib mir Decken und Kissen." "Ich habe keine." Da es ihm nicht möglich war, einen Lohn von ihm zu erhalten, warf der Angestellte seine Sachen über seine Schultern und kehrte niedergeschlagen nach Hause zurück.
Nach den Feiertagen nahm der Arbeitgeber den Lohn seines Angestellten mit Gütern, die auf drei Eseln geladen wurden – einen Esel voll mit Essen, einen mit Getränke und einen mit verschiedenen süssen Leckerbissen – und reiste in den Wohnort seines früheren Angestellten im Oberen Galil. Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, bezahlte er ihm seinen Lohn. Er sagte zu ihm: "Als du mir sagtest, dass ich dir deinen Lohn bezahlen solle, und ich dir antwortete, dass ich kein Geld habe, was dachtest du über mich?" Der Angestellte antwortete: "Ich sagte mir, dass du vielleicht günstige Ware angeboten erhieltest und du sie mit dem Geld kauftest, das du sonst für meinen Lohn verwendet hättest." Und als du sagtest: "Dann gibt mir Vieh," und ich darauf antwortete: "Ich habe keines," was dachtest du über mich? Da antwortete der Angestellte: "Ich sagte mir, dass du möglicherweise dein Vieh anderen vermietet hättest." Da sagte der Arbeitgeber zu ihm: "Und als du von mir Früchte als Lohn verlangtest, und ich dir sagte, ich hätte keine, was dachtest du über mich?" Darauf antwortete der Angestellte: "Ich dachte die Früchte seien noch nicht gema’assert (verzehntet), und du mir nicht die Früchte in diesem Zustand geben möchtest."
So geht der Talmud durch jede dieser "Ausreden", die der Arbeitgeber seinem Angestellten erwähnte, und erklärt, wie der Angestellte ihn günstig beurteilte und in jedem der Fälle ein Szenario annahm, das rechtmässig solch eine Reaktion gerechtfertigt hätte. Als der Angestellte ihm schlussendlich vorschlug: "Gib mir "Decken und Kissen," und der Arbeitgeber antwortete: "Ich habe keine," das bedeutet: "Ich habe wirklich nichts, was ich dir geben könnte", was dachtest du über mich?" Darauf sagte der Angestellte: "Ich dachte, du hättest all deine Güter dem Bejt Hamikdasch (Tempel) geheiligt (gespendet)!". Der Arbeitgeber schwor: "Genau so war es! Ich hatte meinen gesamten Besitz für den Himmel geweiht, weil mein Sohn Horkenos sich nicht mit dem Torastudium befasste, und deshalb wollte ich nicht, dass er einen Nutzen davon haben sollte. Und als ich zu meinen Kollegen im Süden kam, hoben sie all meine Gelübde – gemäss der Halacha – auf. Und was dich betrifft – genauso wie du mich günstig beurteilt hast, so möge der Allgegenwärtige Richter dich auch immer günstig beurteilen."
Dies ist die Zusammenfassung der Gemara im Traktat Schabbat. Lasst uns jedoch eine einfache Frage stellen: Wenn man sieht, dass ein religiöser Jude am Schabbat auf der Strasse fährt, kann man eine von zwei Gedanken haben: Man kann denken: "Es sieht so aus, als ob dieser Mensch plötzlich seine Religion gänzlich weggeworfen hat", oder man kann denken, dass "er einen medizinischen Notfall hat und ins Spital fahren muss und er kein Taxi erreichen konnte, sodass er am Schabbat selbst fährt".
Menschen können diese Zweifel hegen, weil wir nicht wissen, warum er am Schabbat fährt, obwohl wir wissen, dass wir ihn bis anhin als religiösen Juden gekannt haben. Wie macht es jedoch beim Ribbono schel Olam (Herr der Welt) Sinn, über einen Zweifel zu sprechen? Was bedeutet es zu sagen "Genauso wie du mich günstig beurteilt hast, soll der Ribbono schel Olam dich günstig beurteilen"? Der Ribbono schel Olam weiss genau, was vorgeht. Er weiss genau, warum du auf der Strasse fährst. Er weiss, dass deine Frau hochschwanger ist und auf dem Hintersitz mit einem Baby, das raus will, mitfährt. Er hat in dieser Angelegenheit keinen Zweifel!
Es gibt ein bekanntes Wort des Ba’al Schem Tov. Der Ausdruck in der Mischna in Pirkej Awot (1:6) lautet "Hewej dan et kol haAdam lekaf sechut" – beurteile die Menschen günstig. Was will das Adjektiv kol (alle, jeden, ganzen) hinzufügen?
Der Ba’al Schem Tow erklärt: Wenn man Leute beurteilt, muss man ihre gesamte Geschichte kennen. Ein Mensch muss wissen, wo er war, was er gegenwärtig durchmacht, und was er durchmachen wird. Ein Mensch kann nicht einfach aufgrund von etwas, das er jetzt mit seinen Augen sieht, ein Urteil fällen. Die gesamten Lebenserfahrungen des Menschen müssen in Betracht gezogen werden, bevor man auf faire Weise urteilen kann. Dies ist die Bedeutung des kol haAdam: Es enthält seine Geschichte, seine Eltern, seine Geschwister, wo er war, was er durchgemacht hat und alles über ihn, den ganzen Menschen, jedes Detail!
Dies ist die Beracha, die im Talmud erwähnt wird. Natürlich weiss der Ribbono schel Olam, was du gerade jetzt tust. Die Beracha ist jedoch, dass der Herr der Welt alle Faktoren in Betracht ziehen soll, die dich zu dieser Handlung gebracht haben. Er sollte jegliches harte Urteil abschwächen, indem er alle mildernden Umstände, die zu deinen Gunsten stehen, in Betracht ziehen: "Hört, dieser Mensch beurteilt die anderen günstig, er versucht, "melamed Sechut" zu sein, er versucht das Gesamtbild zu sehen! Dieser Mensch ist auch dieses und jenes durchgegangen – Ich begünstige ihn, Ich gebe ihm eine weitere Chance!"
- Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.
- Rabbi Israel ben Elieser, genannt der "Ba’al Schem Tov" (1698-1760), Gründer der chassidischen Bewegung, Medschibosch, Ukraine.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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