Wochenabschnitt Paraschat Tasria-Mezora: Wer ist der Mensch, der Leben "konservieren" will?
Raw Frand zu den Paraschot Tasria-Mezora 5785
Ergänzungen: S. Weinmann
Sowohl Paraschat Tasria als auch Paraschat Mezorah befassen sich ausführlich mit den Gesetzen von Zora’at. Der Talmud sagt [Eruchin 15b], dass die aussatzähnliche Plage von Zora’at auf die Sünde von Laschon HaRah (üble Nachrede) zurückzuführen ist. Zora’at war eine „wundersame“ Krankheit, die auftrat, als das Bejt HaMikdasch (Tempel) noch stand. Wenn ein Mensch schlecht über jemand anders redete, wurde zuerst sein Haus in Mitleidenschaft gezogen. Falls er es nicht bereute, nahmen seine Kleider Schaden. Falls das immer noch nicht half, wurde sein Körper mit dieser Plage geschlagen. Er musste sich aus der zivilisierten Welt verabschieden. Man tat öffentlich kund, dass er wegen seinen bösen Reden eine „unreine Person“ sei.
Es gibt einen berühmten Midrasch Rabba zu Paraschat Mezora (16:2), der von einem Hausierer erzählt, der die Städte rund um Zipori bereiste - mit der Behauptung, er würde ein "Sam Chajim - Lebenselixier" (eine Art von Heilmittel oder Zaubertrunk) verkaufen. Um ihn herum versammelten sich regelmässig Menschenmengen, um mehr über das Produkt zu erfahren. Rabbi Jannai, der von seinem Lernzimmer aus ebenfalls diese Verkündung aufschnappte, ging zum Fenster und bat den Hausierer, zu ihm hinaufzukommen und auch ihm etwas davon zu verkaufen.
Der Hausierer sagte zu Rabbi Jannai: "Du und Menschen deinesgleichen benötigen nicht, was ich verkaufe." Rabbi Jannai beharrte darauf, dass er wissen wollte, was der Hausierer verkaufe, und zwang ihn hinaufzukommen. Der Hausierer stieg hinauf, zog ein Tehillim-Buch (Psalmen) aus seiner Hosentasche und zeigte Rabbi Jannai den Vers: "Wer ist der Mann, der leben will, der Tage liebt, Gutes zu sehen: Bewahre deine Zunge vor Schlechtem und deine Lippen vor trügerischem Reden." [Tehillim 34: 13-14]
Rabbi Jannai antwortete: "Mein ganzes Leben lang las ich diesen Vers und begriff nicht, wie er auszulegen sei - bis mir dieser Hausierer über den Weg lief und mir beibrachte, wer der Mann ist, der leben will!"
Das Problem mit dem Midrasch ist offensichtlich. Man muss nicht Rabbi Jannai sein, um durchzublicken, was dieser Vers besagt. Man kann ein einfacher Jude sein, der Grundkenntnisse der hebräischen Sprache hat. Was war so neuartig bei der Interpretation des Hausierers, was Rabbi Jannai so revolutionär fand?
Der "Chida" bietet eine neuartige Interpretation des Midraschs, basierend auf einer sorgfältigen Analyse der Worte des Hausierers. Der Hausierer sagte nicht: "Wer will Leben?" - Stattdessen warb er für seine Ware mit den Worten: "Wer will das Lebenselixier [Sam Chajim]?" Die "Chida" legt nahe, dass uns das hebräische Wort "Sam" (wörtlich: "Droge" oder "Medikament") eine grosse Neuheit lehrt. Prinzipiell wäre es nichts Aussergewöhnliches, zu lehren, dass wenn jemand nach Leben strebt, er die Torah und Mizwot einhalten sollte.
Die Lehre des Hausierers war die Folgende: Wenn jemand eine riesige Menge Getreide hat, was schützt es vor dem Verderben? Es gibt gewisse Haltbarkeitsmittel, die hinzugefügt werden können, um sicherzustellen, dass das Getreide nicht verrottet. So ist es bei fast allen Lebensmitteln. Heutzutage haben wir Esswaren, die lange auf den Regalen liegenbleiben können, weil ihnen Konservierungsstoffe beigemischt werden. Aber das Grundkonzept reicht Jahrtausende zurück.
Die Neuheit bei der Verkaufsmasche des Hausierers bestand darin, dass er das Geheimnis der "Konservierung" des Lebens hatte.
Der "Chowot HaLewawot" lehrt etwas, das uns alle innehalten lassen sollte: Eines Tages werden wir alle zum Himmlischen Gericht gelangen, um Rechenschaft für unser Leben abzulegen. An diesem furchterregenden Tag wird uns eine Abrechnung gezeigt werden, die alle Mizwot und alle Sünden enthält, die wir im Verlauf unseres Lebens begangen haben. An diesem Tag werden wir scheinbar falsche Eintragungen im "Himmlischen Journal" finden. Einerseits werden wir Sünden finden, die wir nicht begangen haben - uns aber angerechnet werden. Anderseits werden wir bemerken, dass Mizwot, die wir gemacht haben, in unserer Abrechnung fehlen.
Zugleich werden wir uns dabei ertappen, den Lohn für Mizwot einzuheimsen, von denen wir faktisch wissen, dass wir sie nie gemacht haben! Wir werden protestieren. Wir haben diese Dinge nie getan! G-tt wird uns erklären, weshalb Mizwot, die wir nie ausgeübt haben, registriert sind: "Diese Mizwa wurde von jemandem gemacht, der dich verleumdet hat.“ Die Art und Weise, wie das Himmlische System funktioniert, ist, dass ein Mensch seine eigenen Mizwot an jenen Menschen verwirkt, über den er "Laschon Hara" (üble Nachrede) gesprochen hat.
Dieses Konzept ist sehr schwer zu verstehen. Wäre diese Idee nicht von solchen Autoritäten wie den "Chowot HaLewawot" angeführt worden, dann würden wir sie in Frage stellen. Die beängstigende Kehrseite des Systems ist, dass wir nicht nur Mizwot "gratis" bekommen, die von jenen gemacht wurden, die uns übel nachgeredet haben - sondern auf die gleiche Weise verlieren wir auch Mizwot, für deren Erfüllung wir einen Grossteil unseres Lebens aufgebracht haben, wenn sie an jene übertragen werden, über die wir Laschon Hara gesprochen haben. Darüber hinaus werden auch ihre Sünden an uns übertragen werden!
Rabbi Josef Karo hatte zu Lebzeiten Kritiker (so wie es mit vielen grossen Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte der Fall war). Es ist bekannt, dass ein „Maggid“ (Engel) regelmässig zu ihm kam, um mit ihm zu lernen - und er ihm sagte, dass er keine Angst vor seinen Kritikern haben müsse, weil er letztendlich mit allen Mizwot [in den Himmel] "aufsteigen" würde, die von all seinen Kritikern gemacht worden waren! (Rabbi Josef Karo schrieb die Lehren des Maggid im Buche „Maggid Mejscharim“ nieder)
Der "Chowot HaLewawot" schreibt: "Wenn die Menschen von diesem Himmlischen System wüssten, würden sie frohlocken, wenn ihnen jemand übel nachredet - anstatt sich aufzuregen!"
Der "Chida" erklärt, dass dies genau die Idee war, die der Hausierer an Rabbi Jannai vermittelte. Seine Zunge vor schlechter Rede zu hüten, ist die "Medizin", um das Leben zu erhalten bzw. zu "konservieren". Rabbi Jannai hatte gedacht, die Absicht des Verses bestehe darin, uns zu lehren, dass die Hütung der Zunge ein Weg sei, Leben zu "erlangen" - indem ein Mensch belohnt wird, genau wie bei jeder anderen Mizwa. Jedoch lehrte ihn der Hausierer, dass sogar jemand, der grossen Lohn verdient habe, sich selbst durch das Sprechen übler Nachrede um seinen Lohn bringen könne. Die grosse Neuigkeit hinsichtlich des Hütens der Zunge besteht darin, dass es einem "Konservierungsstoff" gleicht. Es ist das Elixier, das den Lohn eines Menschen davor bewahrt, an einen anderen übertragen zu werden!
- Midrasch Rabba (der grosse Midrasch): Grosse Sammlung von Erklärungen und Aggadot zum Chumasch der Tanna’im (Mischnagelehrten) und Amora’im (Talmudgelehrten).
- Rabbejnu Bachja ben Josef ibn Pakuda (ca. 1050 – 1120) war ein jüdischer Moralphilosoph und Dichter aus Saragossa, Spanien. Er schrieb die erste systematische Darstellung der jüdischen Ethik, welches zu einer der wichtigsten Werke der jüdischen Philosophie wurde: "Chowot Halewawot" (Das „Lehrbuch der Herzenspflichten“). Er wird oft mit Rabbejnu Bachja ben Ascher (auch aus Saragossa), Verfasser von "Rabbejnu Bachja" zum Pentateuch, verwechselt.
- Rabbi Josef ben Efrajim Karo (1488 - 1575); Toledo (Spanien), Adrianopel (Türkei), Saloniki (Griechenland), Konstantinopel (Istanbul, Türkei) und Zefat (Safed, Israel). Mit vier Jahren erlebte er die Vertreibung der Juden aus Spanien. Er war eine unumstrittene Persönlichkeit in seiner Zeit. Er war Rabbiner, Possek (Dezisor), Kabbalist und schrieb auch Responsen. Noch zu seiner Lebenszeit verfasste und veröffentlichte er umfangreiche Werke, die bis heute im gesamten jüdischen Volk gelernt werden und allseits anerkannt sind:
- Bejt Josef, ein Kommentar zu den Arba'ah Turim, dem aktuellen Werk des jüdischen Rechts zu seiner Zeit. In diesem Kommentar zeigt Karo eine erstaunliche Meisterschaft im Umgang mit dem Talmud und der juristischen Literatur des Mittelalters. Er fühlte sich aufgefordert, die Gesetze und Bräuche des Judentums angesichts des durch die spanische Vertreibung verursachten Zerfalls zu systematisieren.
- Schulchan Aruch, eine Zusammenfassung seiner Entscheidungen in Bejt Josef. Dieser Kodex wurde 1555 fertiggestellt und 1565 in vier Teilen veröffentlicht.
- Kessef Mischne (geschrieben in Nikopol, veröffentlicht in Venedig, 1574–75), ein Kommentar zur Mischne Tora von Maimonides . In der Einleitung schreibt Karo, dass sein Ziel darin bestand, die Quelle jedes Gesetzes in der Mischne Tora im Talmud zu finden und das Werk gegen die Kritik des Ra’awad, Rabbi Awraham ben David, zu verteidigen.
- Nach seinem Ableben erschienen weitere Werke von ihm, wie Awkat Rochel (Responsen), Magid Mejscharim (Prediger der Gerechtigkeit - ist ein mystisches Tagebuch, in dem Rabbi Karo über einen Zeitraum von fünfzig Jahren die nächtlichen Besuche eines Engelwesens, seines himmlischen Mentors, der personifizierten Mischna (der massgeblichen Sammlung jüdischer mündlicher Gesetze) aufzeichnete), etc.
- Zusätzlich zu seiner immensen Schreibtätigkeit, leitete er in Zfat auch eine Jeschiwa mit 200 Schülern.
- Rabbi Chajim Josef David Asulai (1724 - 1806); bekannt mit dem Akronym "CHIDA". Jerusalem, Chewron, Kairo und Livorno. Rabbiner, Kabbalist und Verfasser von über 80 Werken. War u.a. ein Schüler des Or Hachajim Hakadosch. Als ‘Schadar’ (Abgesandter) reiste er viel herum, um für die jüdische Gemeinde von Chewron (Hebron) Spenden zu sammeln. Einer seiner bekannten Werke ist Schem HaGedolim (Namen des Grossen), das über 1000 Biografien und Bibliografien von Weisen des jüdischen Volkes enthalten.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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