Elul/ Paraschat Ki Teze
Elul/ Paraschat Ki Teze

Elul – Ein Ir Miklat der Zeit (Paraschat Schoftim und Elul 5785)

Was verbindet Elul mit den Zufluchtsstädten?

Was verbindet Elul mit den Zufluchtsstädten?
Foto: AI free sharing

Elul – Ein Ir Miklat der Zeit

Rav Frand zu Paraschat Schoftim und zum Monat Elul 5785

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Paraschat Schoftim enthält eine Bezugnahme auf die sechs Arej Miklat (Zufluchtsstädte), in die ein Mensch, der einen anderen Menschen unabsichtlich getötet hat, flüchten muss. Anstatt eine andere Strafe zu erhalten, weil er ein unschuldiges Leben beendet hat, verbleibt solch eine Person in der Ir Miklat bis zum Tode des amtierenden Kohen Gadol (Hohepriester).

Die Arej Miklat werden eigentlich in Paraschat Mass’ej und sogar noch früher in Paraschat Mischpatim erwähnt. Der Passuk in Mischpatim lautet: "Wer einen Menschen umbringt, der soll getötet werden. Wenn er ihn aber nicht aufgelauert hat, sondern G-tt es so in seine Hand gefügt hat (es geschah unabsichtlich), so werde ich dir einen Ort bestimmen, wohin er fliehen soll" (Schemot 21:12-13). Die vier Wörter "Ina Lejado, Wesamti Lecha" (wenn G-tt es so in seine Hand gefügt hat, so werde ich dir bestimmen) beginnen mit den Buchstaben Alef-Lamed-Waw- Lamed, die das Wort Elul (den Monat des jüdischen Kalenders, der den Hohen Feiertagen vorangeht) ergeben. Schon die Tora selbst legt so einen Hinweis auf die Verbindung zwischen dem Monat Elul und den Zufluchtsstädten.

 

Warum Exil für ein Versehen?

Viele Kommentatoren besprechen die Frage – warum muss ein Mensch, der beSchogeg (unabsichtlich) jemanden tötet, mit Exil in einer Zufluchtsstadt bestraft werden? Er hatte keine Absicht, dies zu tun. Und doch muss er sich ins Exil begeben, was oft sehr streng ist. Falls der Kohen Gadol ein junger, gesunder Mensch ist, könnte leicht geschehen, dass der ungewollte Mörder für sein restliches Leben in der Zufluchtsstadt verbleiben muss! Was ist der Grund dafür? Warum kann ihm für diesen einmaligen Fehler nicht verziehen werden?

Die Antwort ist, dass die Tora der Meinung ist, dass wenn ein Mensch bezüglich des menschlichen Lebens besonders vorsichtig ist, dies ihm nicht geschehen würde! Zum Beispiel: Ein Mensch, der bezüglich Hilchot Schabbat (Schabbat-Gesetze) äusserst vorsichtig ist, der wird die Halacha einer verbotenen Melacha (Arbeit) von Schabbat sogar unabsichtlich nicht übertreten. Der Schabbat ist für ihn etwas so Ernsthaftes, dass er alle nötigen Schritte ergreift, um sicherzustellen, dass er den Schabbat nicht mechallel ist (entweiht). Heute kann ein Mensch Deckel aus Plastik oder Metall kaufen, die er über alle Lichtschalter in seinem Haus vor dem Schabbat-Eingang anbringen kann. Es ist nicht etwas Ungewöhnliches, dass ein Mensch am Freitagabend in sein Badezimmer geht und (vergessend, dass es Schabbat ist) den Lichtschalter anknipst. Wir können uns leicht den schrecklichen Ärger eines Menschen vorstellen, der halb schlafend und nicht richtig wissend, was er tut, das Licht einschaltet und nachher begreift, dass es Schabbat ist…

Dies wird jemandem nicht geschehen, der bezüglich Hilchot Schabbat sehr vorsichtig ist. Z.B. wird ein solcher Mensch sicherstellen, dass es am Schabbat eine Art Schutz über dem Lichtschalter hat, weil die Schabbat-Befolgung für ihn lebenswichtig ist. Dasselbe geht für den unbeabsichtigten Mörder an. Wenn ein Mensch äusserst überlegt und vorsichtig ist, was das menschliche Leben betrifft, wird es nicht geschehen, dass er chas weschalom (G-tt behüte) jemanden beSchogeg tötet. Dies ist keine Beschuldigung, dass der Mensch, der unabsichtlich jemanden tötet, ein beabsichtigtes Verbrechen begangen hat. Aber ein gewisser Mangel an Achtung vor der Heiligkeit des Lebens kann dazu führen, dass solche ‚Unfälle‘ passieren.“  

Sie werden sich fragen – gibt es wirklich Leute, die die Heiligkeit des Lebens nicht voll respektieren? Die Antwort ist: Ja. Es gibt Millionen solcher Leute. Leute beschäftigen sich oft mit gefährlichen Aktivitäten, wie halsbrecherischer Artistik, oder waghalsige Fliegerei, etc. Warum? Weil sie die Heiligkeit des Lebens nicht voll respektieren.

 

Die Zeit ist unendlich wertvoll – selbst eine Minute

Dies ist die Lektion, die wir über die Jahre hinweg oft zitiert haben. Es ist die bekannte Gemara (Awoda Sara 18a) über die Römer, die Rabbi Chananja ben Tradjon festnahmen, um ihn auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, weil er öffentlich Tora lehrte.

Man wickelte ihn in eine Tora-Rolle, umgab ihn mit Reisigbündeln, zündete sie an und legte ihm nasse Wollstücke auf die Brust, damit er langsam und qualvoll sterben sollte. Seine Tochter rief: „Vater, muss ich dich so sehen?“ Er antwortete: „Wenn nur ich allein verbrannt würde, wäre es schwer für mich. Doch da ich zusammen mit einer Tora-Rolle verbrannt werde, so wird Derjenige, der die Schmach der Tora-Rolle rächt, auch meine Schmach rächen.“

Seine Schüler fragten ihn: „Meister, was siehst du?“ Er sagte: „Ich sehe, wie das Pergament verbrennt – aber die Buchstaben steigen in den Himmel.“ Sie baten ihn: „Öffne deinen Mund, damit das Feuer eindringt und du schnell stirbst.“ Doch er erwiderte: „Besser ist es, dass Der, der mir die Seele gegeben hat, sie auch nimmt. Der Mensch soll nicht selbst Hand anlegen, um seinen Tod zu beschleunigen.“

Da sprach der Henker zu ihm: „Mein Lehrer, wenn ich das Feuer verstärke und die Wollstücke von deinem Herzen nehme, sodass du schneller stirbst und weniger leidest – wirst du mir das Leben in der kommenden Welt zusichern?“ Rabbi Chanina antwortete: „Ja.“ Der Henker sagte: „Schwöre es mir!“ – und Rabbi Chanina schwor.

Daraufhin verstärkte der Henker das Feuer, nahm die Wollstücke von seinem Herzen, und Rabbi Chaninas Seele schied schnell aus. Anschliessend sprang der Henker ins Feuer und starb. Da ertönte eine Himmelsstimme: „Rabbi Chanina ben Teradjon und der Henker sind für das Leben in der kommenden Welt bestimmt.“

Als Rabbi (Rabbejnu Hakadosch, Rabbi Jehuda haNassi) dies hörte, weinte er und sprach: „Es gibt den, der seinen Anteil an der kommenden Welt in einem einzigen Augenblick erwirbt, und es gibt den, der ihn erst nach vielen Jahren harter Mühe erwirbt.“

Es gibt weitere zwei Talmudstellen, die dieser Lektion ähnlich sind (Awoda Sara 10b und 17a). Am Ende von jeder Stelle macht der Talmud dieselbe Erklärung: "Bezüglich dieses Vorfalls weinte Rabbi und sagte: " Es gibt den, der seinen Anteil an der kommenden Welt in einem einzigen Augenblick erwirbt, und es gibt den, der ihn erst nach vielen Jahren harter Mühe erwirbt.“

Warum weinte Rabbi?  Sagte er etwa: "Schaut!  Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, ein ehrlicher Jude zu sein, und ich sehe, dass dieser Mann in einer Minute Olam Haba (die künftige Welt) erhielt. Was für eine Zeitvergeudung!" Chas weSchalom (G-tt behüte)! Vielmehr sah Rabbi, wie viel ein Mensch in einer Minute seines Lebens erzielen kann. Aus diesem Grund weinte er. In nur einer Minute konnte dieser Mensch sein gesamtes geistiges Schicksal verändern.

Wir schätzen nicht, was wir mit einer Stunde oder sogar einer Minute unseres Lebens erreichen können. Der Kelmer Maggid erzählte das folgende Maschal (Gleichnis) in einer Rede, die er einst zur Zeit von Ne'ila (gegen Ende von Jom Kippur) hielt: Ein Mal’ach (Engel) kam in einen Friedhof und gab allen Verstorbenen eine Stunde, um zum Leben zurückzukehren. Was taten die Leute, als sie aus ihrem Grab rauskamen?

Ein Mensch ging zu seinen Eltern und kümmerte sich hingebungsvoll um ihre Bedürfnisse. Er hatte das Gefühl, dass er während seiner Lebenszeit nicht genügend Kibbud Aw waEm (Ehre von Vater und Mutter) getan hatte.

Ein anderer Mensch rannte ins Bejt haMidrasch, holte sich eine Gemara (Talmudband) und lernte eine Stunde. Ein dritter Mensch verteilte Zedaka (Almosen). Ein vierter Mensch befasste sich mit Gemillut Chassadim (Wohltätigkeit). Als die Stunde vorbei war, mussten sie alle in ihr Grab zurückkehren.

"Und was", fragte der Maggid, "ist mit uns Lebenden, die mehr als eine Stunde haben? Und überdies, wer weiss, ob wir überhaupt noch eine Stunde in dieser Welt zugute haben?"

Die Lehre: Zeit ist unendlich wertvoll.

 

Erziehung in der Ir Miklat

Dieser Mensch, der unabsichtlich jemanden tötete, der scheinbar einen Mangel an Chaschiwut für das Leben hatte, wird in die Ir Miklat (Zufluchtsstadt) gesandt. Wer wohnte eigentlich in den Arej Miklat? Die Arej Miklat sind alle Städte, die dem Schewet (Stamm) Lewi zugeteilt wurden, nur Lewijim wohnten dort. Was tun die Lewijim mit ihrem Leben? Ihr Leben ist der Awodat Bejt Hamikdasch (Tempel-Dienst) gewidmet. Der Jude, der beSchogeg getötet hat, benötigt eine Neuerziehung über die Wichtigkeit des Lebens. Der beste Platz, wo er dies erhalten kann, ist in einer Ir Miklat, die von den Lewijim bevölkert ist, welche die wichtigsten Tora-Lehrer von Jisrael sind (Dewarim 33:10). Nur in diesem Umfeld kann der Täter neu lernen, was Leben bedeutet und wie heilig es ist.

 

Elul – Ein Zufluchtsort der Zeit

Was ist die Verbindung zwischen den Arej Miklat, die den Menschen angehen, der unabsichtlich jemanden tötet, und dem Chodesch Elul?

Eine Ir Miklat ist ein physischer Ort. Er ist von geographischer Natur. Der Chodesch Elul ist eine Ir Miklat der Zeit. Es ist die Zeit des Jahres, da ein Mensch über das Leben, die Wichtigkeit des Lebens und die Wichtigkeit jeder einzelnen Minute des Lebens nachdenken sollte. Dies sollte der Schwerpunkt eines Menschen im Chodesch Elul sein. Wir befinden uns noch zu Beginn des Monats. Elul hat gerade begonnen. Dies ist jedoch die vorrangige Funktion dieses Monats – uns neu zu orientieren und uns daran zu erinnern, wie wertvoll das Leben ist, wie flüchtig das Leben leider sein kann, und was wir mit unserem Leben erreichen können.

Jüdische Geschäftsleute aus Panama pflegten im Monat Elul für drei oder vier Tage ins Bejt Midrasch Gawoha (BMG) (Lakewood, N.J.) zu kommen. Geschäftsleute, die ihre Familien und ihre Arbeit zurücklassen und sich im BMG in einem Programm engagieren, das sie vom Morgen bis zum Abend mit Lernen, Schiurim, Vorträgen etc. beschäftigt. Sie erreichen dabei viel, weil BMG ein Ort ist, wo die Menschen die Zeit schätzen. Aus diesem Grund kommen sie dorthin. Sie gewinnen ein grösseres Verständnis für das, was im Leben wirklich wichtig ist.

Darum steckt in den Worten „Ina Lejado Wesamti Lecha“ nicht nur der Hinweis auf die Arej Miklat, sondern auch auf Elul: Eine Einladung, Zuflucht in der Zeit zu suchen – indem wir jeden Tag und jede Minute bewusst und heilig nutzen und uns fragen: nutze ich die Zeit richtig, die Haschem mir gegeben hat?"

 

Quellen und Persönlichkeiten:

Der „Alte von Kelm“, Rabbi Simcha Sissel Siw (1824 – 1898); Rosch Jeschiwa in Kelm, einer            der Hauptschüler von Rabbi Jisrael Salanter, dem Gründer der Mussarbewegung (Schulung des     Charakters). Die Mussar-Bewegung entstand im 19. Jahrhundert in Litauen als Reaktion auf einen befürchteten Zerfall der jüdischen Kultur durch Assimilierung und Haskala.

 

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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