Siwan / Paraschat Beha’alotecha
Siwan / Paraschat Beha’alotecha

Eine Zeit, in der die Tochecha und das Olam Haba einen echten Marktwert hatten (Paraschat Behar-Bechukotai 5785)

Die Tochecha und das Olam Haba sind existent
Foto: AI Avigail

Wochenabschnitt Paraschat Bechukotai: Eine Zeit, in der die Tochecha und das Olam Haba einen echten Marktwert hatten

Rav Frand zu Paraschat (Behar-) Bechukotai 5785 – Beitrag 2

Ergänzungen: S. Weinmann

Weitere Artikel zu den Wochenabschnitt , finden Sie hier

Der Passuk, den wir im ersten Beitrag zu dieser Parascha besprochen haben (Wajikra 26:13), ist das Ende der “guten Nachrichten” (des Segens). Dann beginnt die schreckliche Tochecha (Zurechtweisung) [Kapitel 26:14-46] (Aufzählung von Israels Strafen, bei Nichteinhaltung der Tora-Gesetze): “Wenn ihr mir aber nicht gehorcht und alle diese Gebote nicht haltet…”(Wajikra 26:14). “Ich werde den Stolz eurer Macht brechen…” (Wajikra 26:19); und so weiter… Die schrecklichen Dinge, die wir leider während der gesamten jüdischen Geschichte erlebt haben, werden geschehen…

Der übliche Brauch bezüglich des Lesens der Tochecha in der Sefer Tora ist, dass der Ba’al Kore (die Person, die für die Lesung der Tora zuständig ist) oder der Gabbai (der die Leute zur Tora- Lesung aufruft) die Alija für sich nimmt, und wer auch immer sie nimmt, macht die vorangehende und darauffolgende Beracha ohne formell zur Tora “aufgerufen” worden sein. In Europa war es der Brauch, dass – wie Rabbi Dovid Povarsky sZl es erzählte – der Gabbai einem armen Menschen, der dringend Geld benötigte, dafür bezahlte, dass er die Alija akzeptiere. Niemand wollte diese Alija, also mussten sie finanziellen Druck auf Menschen ausüben, damit sie dazu bereit waren. Er sagte, dass der Marktpreis für diese Alija drei Rubel war. In jenen Tagen waren drei Rubel viel Geld.

(Als humorvolle Nebenbemerkung gibt es einen berühmten jiddischen Witz, dass sie in einer Schul einst beim Punkt ankamen, da sie die Tochecha leinen mussten, und einen armen Mann für diese Alija angestellt hatten, aber der Mann nicht erschien. Der Ba’al Kore wartete eine längere Zeit. Schliesslich erschien der Mann und der Ba’al Kore fragte ihn: “Wo warst du?”, darauf antwortete der Arme: “Meinst du, dass dies die einzige Tochecha ist, für die ich ein Alija-Gehalt bekomme? Ein Mensch kann nicht von einer einzigen Tochecha-Alija leben!”)

Rabbi Dovid Povarsky weist in seinem Sefer darauf hin, dass wir sehen, dass dies in Europa wirklich etwas für die Leute bedeutete. Sie hatten Angst, die Tochecha- Alija zu erhalten. Der Inhalt dieser Pessukim war für sie echt. Sie nahmen es persönlich. Der einzige Weg, jemanden für diese Alija zu finden, war es, jemanden anzustellen, der verzweifelt war.

Obwohl dies vielleicht nicht einen solch guten Eindruck über die Gesellschaft machte – weil sie einen armen Mann ausnützten – zeigt es auf positive Art, wie echt die Prophezeiungen der Tora für sie waren. Heute sehen wir dies leider zwangloser an. Ein Mensch akzeptiert die Alija und denkt nicht weiter darüber nach. Zehn Minuten später geht er zum Kiddusch, macht ein Lechajim und macht sich keine weiteren Gedanken darüber.

Rav Dovid Povarsky schreibt weiter, dass der grosse Raw Jisrael Salanter, der die Gefühle von anderen Menschen sehr ernst nahm, nicht glücklich über den Brauch der Kehillot war, einen armen Menschen für die Alija anzustellen. Er pflegte von einer Schul zur anderen zu gehen und die Alija für sich zu nehmen, anstatt arme Leute der Schande und Erniedrigung auszusetzen, die das Annehmen dieser Alija bedeutete. Einmal stand Raw Jisrael Salanter auf und sagte: “Ich will diese Alija erhalten”, darauf weigerte sich der Ba’al Kore zu leinen, weil er nicht wollte, dass die Flüche auf seinen verehrten Rabbiner fallen. Raw Jisrael bat den Ba’al Kore zur Seite zu gehen und leinte die Tochecha selbst! Diese Anekdoten weisen darauf hin, wie real die Tochecha in früheren Generationen war.

Ich erinnere mich an eine Geschichte mit einer ähnlichen Lektion. Raw Jaakov Kamenetsky schreibt, dass er sich an einen Vorfall in Europa erinnere, als er noch ein Kind war. Während der Pause spielten sie ein Spiel namens “Kugelach”. Ein Kind verlor alle seine “Kugelach” beim Spiel und war sehr aufgeregt. Er sagte zu einem anderen Kind: “Ich bin bereit dir mein halbes Olam Haba (Künftige Welt) für drei Kugelach zu verkaufen.” Raw Jaakov schrieb: “Natürlich verstehen wir, was für eine Katastrophe es für jemanden ist, seinen Anteil in der Kommenden Welt zu verkaufen, aber ein Kind ist ein Kind, also ist er bereit, für einige benötigte “Kugelach” sein Olam Haba zu verkaufen, aber es zeigt, dass für die Leute jener Generation – und sogar für Kinder – das Olam Haba etwas Reales war. Es war eine echte Handelsware, es bedeutete etwas.” Dies weist auf die Emuna  (Glauben) hin, die in Europa in jenen Zeiten vorherrschend war. Leider ist solch eine Emuna in unserer Zeit nicht gleich verbreitet.

 

Quellen und Persönlichkeiten:

 

Rabbi Jisrael (Lipkin) Salanter (1810 – 1883), war jüdischer Gelehrter, Rabbiner und Gründer der         Mussarbewegung (Schulung des Charakters). Er forderte eine intensivere Verknüpfung von Halacha und Ethik in Theorie und Alltagspraxis des Judentums. Sein wichtigstes Anliegen war die sittliche Läuterung, Selbsterkenntnis und Selbstvervollkommnung. Rosch Jeschiwa in Wilna und Kovno; Litauen.

Rabbi Ja’akov Kamenetsky (1891-1986); Minsk, Slobodka, Seattle, Toronto und New York. War Rabbiner, Rosch Jeschiwa, Possek und grosser Talmudgelehrter. Rosch Jeschiwa von Tora We’Daat, Brooklyn. Zusammen mit Rabbi Mosche Feinstein leitete er das amerikanische Judentum in Fragen der Halacha und in spiritueller Führung bis 1986, als beide Grössen diese Welt verliessen. Verfasser von verschieden Werken, wie Emet leJa’akov zum Schulchan Aruch und Erklärungen zum Chumasch.

Rabbi Jehoschua Dovid ben Schalom Povarsky (1902-1999) war rund 55 Jahre Rosch Jeschiwa der  Poniwescher Jeschiwa in Benej Berak. Im Jahr 1941 emigrierte er mit seiner Familie nach Palästina und entkam so der Schoa. Zuerst fungierte er als Rosch Jeschiwa in der Jeschiwa Achej Temimim von Chabad. Im Jahr 1944 wurde er von Rabbi Josef Schlomo Kahaneman, Poniwescher Raw – einer der grössten Erbauer von Tora- uns Waisen-Institutionen nach der Schoa – gebeten, die Leitung der Poniwescher Jeschiwa zu übernehmen. Einer seiner Söhne, der bekannte Rav Boruch Dovid Povarsky, folgte ihm als Rosch Jeschiwa. Er hinterliess viele Werke zum Schulchan Aruch, zum Talmud und Mussar.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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