Cheschwan / Paraschat Wajera
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Eine neue Perspektive auf die Geschichte der Sintflut (Paraschat Noach 5786)

Sintflut - Wer rettete wen?

Sintflut - Wer rettete wen?
Foto: AI Avigail

Eine neue Perspektive auf die Geschichte der Sintflut

Rav Frand zu Paraschat Noach 5786

Bearbeitet und ergänzt von S. Weinmann

In der dieswöchigen Parascha spricht der Ewige zu Noach – nachdem er ihm befohlen hatten, von allen Tieren und Vögeln zwei oder sieben Exemplare in die Tejwa (Arche) hineinzubringen – wie folgt: "Denn in noch sieben Tagen werde Ich auf die Erde regnen lassen, vierzig Tage und vierzig Nächte, und werde alles Wesen, das Ich geschaffen habe, von dem Erdboden hinweg vertilgen. Und Noach tat alles, was Haschem ihm befohlen hatte" [Bereschit 7:4-5]. Unser erster Eindruck wäre es zu denken, dass die Worte "und Noach tat alles, was Haschem ihm befohlen hatte", bedeutet, dass er die Tejwa (Arche) baute. Aber dies kann nicht der Sinn sein, da bereits einige Verse früher [6:22] im Passuk steht: "Und Noach tat alles, was ihm G-tt befohlen hatte". Deshalb ist Raschi gezwungen diesen Vers "und Noach tat, was ihm befohlen wurde" zu interpretieren, dass sich dies auf die Tatsache bezieht, dass Noach in die Tejwa kam.  

Jedoch stellt der Or Hachajim Hakadosch auf Raschi eine schwierige Frage. Er sagt bezüglich Raschis Erklärung: "Wir benötigen keinen Passuk, der undeutlich auf die Tatsache hinweist, dass Noach in die Tejwa kam; denn die Tora erklärt anschliessend klar und deutlich, dass Noach in die Tejwa kam; zuerst im Vers 7:7 "Und Noach kam mit seinen Söhnen und seiner Frau und seinen Schwiegertöchtern in die Tejwa vor den Wassern der Flut", und wiederum einige Pessukim später [7:13]: "An eben diesem Tag kam Noach mit seinen Söhnen Schem, Cham und Jefet und seiner Frau und seinen drei Schwiegertöchtern mit ihnen in die Tejwa."

Diejenigen, die einen Kommentar zu Raschi abgeben, erklären, dass der Passuk 5 uns nicht lehrt, dass Noach in die Tejwa hineinging. Dies ersehen wir aus den Pessukim 7 und 13, wie oben erwähnt. Deshalb meint Raschi nur zu erklären, dass "und Noach tat, was ihm befohlen worden war" bedeutet, dass er zur Tejwa hinging. Aber dann stellt sich die Frage "Was will hier die Tora betonen? Es scheint nicht von Bedeutung zu sein, dass Noach bis zur Tür der Tejwa ging!

Der Tolner Rebbe zitiert eine sehr interessante Betrachtung des Tiferet Schlomo, des Radomsker Rebben. Unsere Weisen erklären an zwei Stellen, warum Noach uns seine Familie von der Sintfut gerettet wurden:

Im Midrasch Tehilim/Psalm [Kapitel 37] steht folgendes: Als Awraham Malki Zedek, den König von Schalem traf [siehe Bereschit 14:18-20] – das war Schem, der Sohn Noachs – fragte er Ihn: «Wie habt Ihr in der Tejwa überlebt (d.h. in welchem Verdienst)?» «Im Verdienst der Wohltätigkeit, die wir dort ausübten!» war die Antwort. Darauf entgegnete Awraham: «Wohltätigkeit? Hatte es denn Arme in der Arche? Es war ja nur Eure Familie dort?!» Da sagte Schem: «Wohltätigkeit mit den Tieren und Vögeln! Wir konnten nicht einmal schlafen. Es gab Tiere, die bei Tag ihr Essen benötigten und wieder andere mussten wir in der Nacht füttern.

Ähnlich finden wir dies im Talmud [Traktat Sanhedrin 108b]: "Elieser, der Knecht Awrahams, fragte Schem: "Was tatet ihr in der Tejwa?" Schem antwortete: "Wir litten dort schrecklich! Die Tiere, die während dem Tag essen, fütterten wir am Tag. Die Tiere, die in der Nacht essen, fütterten wir in der Nacht. Auch mussten wir manchmal erst ausfindig machen, was das Essen des Tieres war".

Während den gesamten zwölf Monaten konnten Noach und seine Söhne nicht schlafen. Während dem ganzen Jahr der Flut taten sie nichts anderes, als sich Tag und Nacht um die Tiere zu kümmern. Der Grund also, warum Noach gerettet wurde, war, weil er Rachmanut (Mitleid, Erbarmen) mit den Tieren hatte. In diesem Verdienst überlebte er die Flut. «Rachmanut erzeugt Rachmanut»; «Mida keneged Mida (Mass um Mass)».

Dies beantwortet auch eine andere Frage. Der Talmud lehrt uns (Traktat Baba Kama 60a), dass wenn der Engel der Zerstörung die Erlaubnis zur Zerstörung erhält, er keine Unterscheidung zwischen den Gerechten/Frommen und den verdorbenen Menschen macht. Deshalb durften die Juden in Mizrajim, die ganze Nacht von Makat Bechorot (Plage der Erstgeborenen) nicht aus ihren Häusern hinausgehen. Warum also wurden Noach und seine Familie gerettet? Die Antwort ist, was Schem, der Sohn von Noach, zu Awraham Awinu und Elieser sagte: Wir wurden aus einem einzigen Grund gerettet, weil wir Mitleid mit den Tieren hatten.

Basierend auf dieser Erklärung beantwortet der Tiferet Schlomo eine andere Frage. Der Midrasch sagt [wie Raschi ihn zitiert, 6:13], dass letztendlich das Urteil auf das Dor Hamabul (die Generation der Flut) für die Sünde des Diebstahls besiegelt wurde. Das Dor Hamabul verübte sicherlich viel schlimmere Dinge als nur Diebstahl. Sie befassten sich mit allen möglichen Arten von Gräueltaten wie sexuelle Perversionen. (Ich kann es immer noch so nennen, obwohl solch eine Bezeichnung in anderen Segmenten der Gesellschaft nicht mehr erlaubt ist.)

Natürlich ist Diebstahl nicht etwas Hübsches. Aber "die gesamte Erde war verdorben (mit sexuellen Perversionen)" (Bereschit 6:11), in solch einem Ausmass, dass dies sogar einen verderbenden Einfluss auf die Tiere hatte – was viel schlimmer ist. Wo es also sexuelle Freizügigkeit, Ehebruch, Homosexualität und alle Arten von anderen sexuellen Perversionen in der ganzen Gesellschaft gab, wie kommt es, dass der endgültige Entscheid wegen Diebstahl gefällt wurde? Warum war es so, dass dies der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte?

Die Antwort ist, dass obwohl sie sich mit all diesen schrecklichen Aktivitäten befassten, aber gleichzeitig nett zueinander gewesen wären und Mitleid mit anderen gehabt hätten, dieses Verdienst des Mitleids sie gerettet hätte. Vielleicht hätte es sie nicht gänzlich gerettet, aber der Ribbono schel Olam (Herr der Welt) hätte die Strafe langsam, über eine längere Zeitperiode, verteilt. Er hätte nicht die gesamte Welt in einem Schlag vernichtet. Menschen können viele schlechte Dinge tun, aber wenn sie sich mit ihren Mitmenschen gut verhalten, kann dies helfen, sie vor einer Bestrafung (wenigstens teilweise) zu schützen.

Das Ergebnis von all dem ist eine erstaunliche Art und Weise, die Geschichte in unserer Parascha zu betrachten. Wer rettete wen in der Geschichte von Noach und der Tejwa? Wir dachten, dass Noach die Tiere rettete! Noach nahm die Tiere mit sich und rettete dadurch alle Lebewesen. Aufgrund der Erklärung unserer Weisen jedoch sagt der Tiferet Schlomo, dass es genau das Gegenteil war! Die Tiere retteten Noach! Weil er Erbarmen mit ihnen hatte und weil Erbarmen Erbarmen erzeugt, unterlag Noach nicht der Regel, dass "wenn der Vernichter die Erlaubnis erhält zu vernichten, unterscheidet er nicht zwischen den Gerechten und den Bösewichten".

Aufgrund von all dem sagt der Tolner Rebbe, dass es dies ist, was Raschi uns lehrt, indem er "Und Noach tat, was Haschem ihm befohlen hatte», damit interpretiert, dass Noach zur Tejwa kam (anstatt in die Tejwa hineinkam). Warum ist dies von Bedeutung? Es ist, weil die einfache Tat des Hingehens zur Tejwa Noach von seiner gesamten Generation unterschied. Als er zur Tejwa ging, sagte er damit der restlichen Gesellschaft: "Ich will mit euch nichts zu tun haben". Indem er sich separierte und die Tejwa vorbereitete, nahm Noach die Aufgabe an, die Welt zu retten. Laut Raschi ist das Lob, das der Passuk Noach gibt, das folgende: Er ging hin zur Tejwa – und demonstrierte damit sein Erbarmen für die Zukunft aller Vögel und der Tierwelt auf unserem Planeten!

Quellen und Persönlichkeiten:

Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak, Rabbi Schlomo Jizchaki oder Rabban Schel Jisrael (der Grosslehrer Jisraels), meist jedoch nur Raschi genannt (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland). Er war ein französischer Rabbiner und massgeblicher Kommentator des Tenach und Talmuds; „Vater aller TENACH- und TALMUD-Kommentare“. Er ist einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters. Sein Bibelkommentar wird bis heute studiert und in den meisten jüdischen Bibelausgaben abgedruckt; sein Kommentar des babylonischen Talmuds gilt ebenfalls als einer der wichtigsten und ist in allen gedruckten Ausgaben dessen Text beigefügt.

Or HaChajim Hakadosch (1696 – 1743): Name des Hauptwerks von Rabbi Chajim ben Mosche ben Atar, berühmter Thorakommentar; er verfasste weitere Werke wie Chefez Haschem, P‘ri To‘ar, Rischon Lezion. Marokko, Italien, Israel.

Rabbi Schlomo Hakohen Rabinowitz (1801 – 1866); Radomsk (Polen). Er war der erste Rebbe der Radomsker chassidischen Dynastie und einer der grossen chassidischen Rebbes des Polens des 19. Jahrhunderts . Er ist als Tiferet Schlomo nach dem Titel seines Buches bekannt, der als Klassiker der chassidischen Literatur gilt.

Rabbi Jizchak Menachem Weinberg, der Tolner Rebbe (zeitgenössischer Rebbe und Redner), leitet die Tolner Gemeinde in Jerusalem und ist ein gefragter Dozent. Verfasser von "Hejma Jenachamuni", Gedanken zum Pentateuch.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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