Siwan / Paraschat Balak
Siwan / Paraschat Balak

Die Unterschiede zwischen Awraham und Bil’am, und Awraham und Ijow (Paraschat Balak 5785)

Was wird von einem Mensch der ein Ajin Towa (gutes Auge) hat, erwartet?

Was wird von einem Mensch der ein Ajin Towa (gutes Auge) hat, erwartet?
Foto: AI Avigail

Die Unterschiede zwischen Awraham und Bil’am, und Awraham und Ijow

Raw Frand zu Paraschat Balak und Pirkej Awot 5785   

Ergänzungen: S. Weinmann

Die Mischna [in Pirkej Awot 5:22] lehrt: “Diejenigen, die ein gutes Auge, einen bescheidenen Geist und eine anspruchslose Seele haben (Ajin towa, Ruach nemucha, Nefesch schefela) gehören zu den Schülern unseres Patriarchen Awraham. Diejenigen, die ein schlechtes Auge, einen hochmütigen Geist und eine gierige Seele (Masslosigkeit) haben (Ajin ra’ah, Ruach gewoha, Nefesch rechawa) gehören zu den Schülern des Bösewichtes Bil’am.

Was bedeutet dieses Ajin towa (gutes Auge)? Es bedeutet grosszügig zu sein im Denken und im Umgang mit anderen Menschen, ihnen alles mit einem Ajin towa zu geben.

Rabbejnu Jona stellt die Frage, woher wissen wir, dass Awraham Awinu ein ‘Ajin towa’ hatte. In seiner Antwort zitiert Rabbejnu Jona als Beweis dafür den Passuk “und er nahm ein Kalb, zart und gut” [Bereschit 18:7]. Als die drei Engel kamen, ging Awraham und schlachtete für jeden ein eigenes Kalb und bereitete für jeden eine Zunge mit Senf vor (Raschi zur Stelle).

Wenn wir den Wochenabschnitt Wajera anschauen, so haben wir viele Beweise, dass Awraham grosszügig war. Awraham hatte ein ganzes Gästehaus (Eschel, siehe 21:33 und Raschi zur Stelle) – er versorgte die Menschen mit Essen, Trinken und Gesellschaft. Weshalb erwähnt Rabbejnu Jona ausgerechnet diesen Passuk, um zu zeigen, dass Awraham Awinu ein Ajin towa hatte?

Raw Matisjahu Salomon erklärt, dass zwischen einem normalen “Ba‘al Chessed” (gutherzigen Menschen) und einem Menschen, der ein “Ajin Towa” hat, ein Unterschied besteht. Ein normaler “Ba’al Chessed” sieht, dass jemand Essen braucht, also gibt er ihm zu essen. Er sieht einen Menschen, der ein Bett benötigt, so findet er ihm einen Platz zum Schlafen.

“Ajin Towa” beschreibt eine höhere Stufe der Generosität. Ein Mensch mit einem “Ajin Towa” schaut nicht nur den andern an und fragt sich: “Wie könnte ich seine Bedürfnisse erfüllen?” Vielmehr fragt sich der “Ajin Towa” selber: “Wäre ich in dieser Situation – was würde ich am ehesten wollen?” Dies ist “Ajin Towa”, Grosszügigkeit des Denkens: Man begnügt sich nicht damit, einen Mangel zu beheben und die offensichtlichen Bedürfnisse eines zweiten zu erfüllen. Vielmehr analysiert man die aktuelle Situation des Mitmenschen, um herauszufinden, was er alles benötigt.

Das Gästehaus, das Essen und das Wasser, das Awraham seinen Gästen zur Verfügung stellte, sollte den minimalen Bedarf der Gäste zufrieden stellen. Dass er jedoch jedem Gast seine eigene Zunge von einem zarten Kalb gab – dies bringt das Ganze zu einer höheren Stufe! Dies ist Ajin towa. Dies definiert exakt Awraham Awinu.

Die Schüler von Bil’am sind das andere Ende des Extrems. Ajin Ra’ah (schlechtes Auge) repräsentiert eine Art der Missgunst und des Neides – einen Menschen, der nicht akzeptieren kann, dass ein anderer etwas besitzt.

Rabbejnu Jona zitiert den Passuk (wie auch Raschi zur Stelle): “Wenn Balak mir sein Haus voller Silber und Gold geben wird…” [Bamidbar 22:18] als Beweis dafür, dass Bileam ein Ajin Ra’ah hatte. Dies beweist, dass es Bil’am nach etwas gelüstete, das anderen gehörte. Bileam sagte nicht nur “wenn er mir ein Haus voller Geld gibt”. Er sagte, “wenn er mir sein Haus voller Geld gibt”. Hier existiert mehr als nur “ich sollte haben“, wir sehen auch ein „er sollte nicht haben”! Dies ist das Gegenteil von “Ajin towa”.

Es ist interessant zu sehen, dass die Mischna bei der Aufzählung der Eigenschaften von Awraham Awinu jene, die wir als die wichtigste angesehen hätten – Chessed (Güte) – auslässt. Der Grund dafür ist, dass die Mischna uns die Grundeigenschaften aufzählt, die es Awraham gestatteten, ein solcher Meister in Chessed zu sein. Diese sind ‚ein gutes Auge, ein bescheidener Geist und eine anspruchslose Seele (Ajin towa, Ruach nemucha, Nefesch schefala).

Die Mischna [in Pirkej Awot 1:5] lehrt: Jose, der Sohn Jochanans, ein Mann aus Jerusalem, sagt: “Es sei dein Haus weithin geöffnet und es seien Arme deine Hausgenossen…”

In Awot deRabbi Natan [Kapitel 7, Mischna 1] werden diese Aussprüche ausführlich ausgelegt:

“Es sei dein Haus weithin geöffnet”: “Das bedeutet, dass dein Haus nach allen Himmelsrichtungen geöffnet sein soll, damit die Wanderer leicht eintreten können, von welcher Seite sie auch kommen (ohne den Eingang des Hauses suchen zu müssen) – wie es Ijow (Hiob) tat” (Anmerkung: Bei Awraham Awinu steht das Gleiche).

“Lasse Arme deine Hausgenossen sein” – “wie es Ijow (Hiob) tat. Die Armen sollen darüber reden, was es bei dir zuhause zu essen und trinken gibt, wie es bei Ijow war. Als die Armen sich trafen und einer den anderen fragte, woher kommst du? so war die Antwort, aus dem Haus von Ijow! Wohin gehst du? Zum Haus von Ijow!

Als Ijow jedoch von Unheil befallen wurde, so fragte er den Allmächtigen ‘Habe ich nicht den Hungrigen, Durstigen und Nackten Essen, Trinken und Kleider gegeben?’ Doch Haschem antwortete, ‘Ijow du hast noch nicht die Hälfte der Generosität von Awraham erreicht. Du hast in deinem Haus gewartet, bis ein Gast an deine Tür kam. War er gewohnt, Weizenbrot zu essen, so gabst du ihm Weizenbrot. War er gewohnt, Fleisch zu essen, so gabst du ihm Fleisch. War er gewohnt, Wein zu trinken, so gabst du ihm Wein. Doch Awraham handelte anders. Er ging aus seinem Haus und suchte nach Menschen. Wenn er jemanden fand, so lud er ihn ein und erkundigte sich nach seinen Essensgewohnheiten. Ass der Mensch normalerweise nur Brot, so gab Awraham ihm noch zusätzlich Fleisch. Ass er normalerweise Fleisch, so gab ihm Awraham auch Wein. Awraham gab den Menschen nicht nur, was sie benötigten. Er gab ihnen MEHR als sie brauchten. Zusätzlich baute Awraham Gasthäuser bei den Wegverzweigungen, füllte sie mit Speise und Trank und jeder, der kam, ass und trank und lobte den Allmächtigen! Was das Herz (der Wanderer) begehrte befand sich in den Gaststätten von Awraham Awinu!”

Was ist der Unterschied zwischen Ijow und Awraham? Ijow war ein Ba’al Chessed. Er erfüllte den Bedarf der Menschen. Awraham hatte die erhabene Eigenschaft von ‘Ajin towa’. Er füllte nicht nur ein Loch, sondern er fragte sich: “Was würde der Arme wollen, falls es dies gäbe?” und stellte seinem Gast all dies zur Verfügung.

Quellen und Persönlichkeiten:

Pirkej Awot (Sprüche der Väter), Aphorismen und Lebensweisheiten der Tana’im (Mischna-Gelehrten).

Awot deRabbi Natan: Erklärung, Auslegung und Definierung der Pirkej Awot (Sprüche der Väter) von den Tana’im (Mischna-Gelehrten) und den ersten Amora’im (Talmud-Gelehrten). Möglicherweise wurde dieser Traktat nach Rabbi Natan benannt, da er am Anfang des Traktates erwähnt wird.

Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.

Rabbejnu Jona ben Awraham Gerondi (1200-1263); Girona, Barcelona und Toledo, Spanien. Rabbiner und Rosch Jeschiwa. War einer der bekannten Rischonim. Cousin des Ramban (Nachmanides). Bekannt durch seine Werke: „Scha’arej Teschuwa (Lehre über moralisches Verhalten)“, Erklärungen zu Pirkej Awot und Mischlej, wie Abhandlungen zum Talmud (grosser Teil ging verloren).

Rav Matitjahu Chajim Salomon (1937-2024), war ein englisch-amerikanischer Rabbiner, Dozent, bekannter Redner und Maschgiach (geistiger Leiter und Ratgeber) der Gateshead Jeschiwa (GB) mehr als 30 Jahre, und danach Maschgiach der Lakewood Jeschiva (N.J., USA). 

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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