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Die allgewaltige Entscheidungskraft von Mosche Rabbejnu (Paraschat Ki Tissa 5785)

Die Grössen unseres Volkes bestimmen, was G'ttes Wille ist!

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Foto: Shutterstock

Wochenabschnitt Paraschat Ki Tissa: Die allgewaltige Entscheidungskraft von Mosche Rabbejnu

Raw Frand zu Parschat Ki Tissa 5785

Ergänzungen: S. Weinmann

Weitere Artikel zum Wochenabschnitt , finden Sie hier

Ich möchte zwei Erläuterungen von Rabbi Awraham Pam szl. wiedergeben:

Mosche stieg vom Berg Sinai herab (nach der einfachen Torah-Erklärung), sah das Goldene Kalb und den ganzen Rummel und zerbrach die Luchot (Bundestafeln) mit den zehn Geboten.

Der Midrasch erzählt jedoch, dass die Sache nicht so einfach war, wie es sich anhört. Der Midrasch (Awot deRabbi Natan) sagt: „Kommt und seht Mosche Rabbejnus (unser Lehrer) Grösse: Aron und die Ältesten hielten ihn an den Armen fest, er aber behielt die Oberhand.“ 

Es gab eine grosse Meinungsverschiedenheit. Mosche argumentierte, dass die Juden Götzen dienten und dass sie deshalb die Torah nicht verdienten. Mosche wollte die Tafeln zerbrechen. Aron und die Ältesten wehrten sich vehement. Gemäss dem Midrasch beschränkten sie sich nicht nur aufs Argumentieren; sie hielten Mosche an den Armen fest, um ihn am Zerbrechen zu hindern. Der Midrasch endet damit, dass Mosche standhielt und siegte – nicht nur im akademischen und intellektuellen Sinn, sondern auch physisch. Er packte die Luchot und zerschmetterte sie.

Wir können die Argumente von Aron und den Ältesten leicht verstehen. Die steinernen Luchot waren die einzigartigsten Gegenstände, die es gab. Es gab im ganzen Universum nichts, das der „Handschrift G’ttes“ näherkam. Man stelle sich vor: Jemand hält eine Torahrolle nach der Vorlesung in die Höhe und beginnt zu wanken; jeder weiss, wie wir reagieren. Wir stürzen instinktiv nach vorne und versuchen die Torahrolle zu fangen, damit sie nicht zu Boden fällt. Denken sie sich diese Szene tausendfach intensiviert. Eine Torahrolle ist bestimmt heilig; aber es gibt Tausende und Abertausende. Ausserdem ist das Fallenlassen bei der Hagbaha-Handlung (das Hochhalten der Torahrolle nach der Vorlesung) nur ein unabsichtlicher Unfall und hat ganz bestimmt nichts mit Wut oder Absicht zu tun. Mosche hingegen wollte dieses einzigartige Exemplar der „g’ttlichen Handschrift“ mit voller Absicht zerschmettern.

Aron und die Ältesten riefen: „Mosche, du hast nicht recht! Es stimmt, dass die Juden ein Kalb verehren. Sie machen einen Fehler, aber wir können sie erziehen, wir können ihnen zeigen, dass sie auf dem Holzweg sind. Zerbrich‘ die Luchot nicht!“ Der Midrasch sagt, dass Mosche auf seiner Meinung beharrte und die Gegenmeinung nicht zum Zuge kommen liess.

Mosche dachte anders als die anderen. Die Mehrheit dachte logisch. Die Mehrheit zeigte Mitgefühl. Mosche lehnte dies alles ab und zerbrach die Luchot. Woher nahm Mosche diese Überzeugung und diese Kühnheit?

Der Talmud [Schabbat 87a] sagt, dass Mosche seine Meinung auf ein Kal WaChomer (logische Schlussfolgerung; der Schluss von dem Leichteren auf das Schwerere) stützte: Wenn doch schon bei einem Pessachopfer, das nur eines der 613 Gebote ist, die Torah sagt, dass ein Mumar (ein Jude, der vom Judentum abfiel) nicht am Pessachopfer teilhaben darf („Kol ben Nechar lo jochal bo“ [Schemot 12:43]), jetzt, wenn es um die ganze Torah geht, die G“tt ihnen geben möchte und die Juden wegen des Goldenen Kalbes den Status von Mumarim haben, umso weniger können sie sie empfangen und daran teilhaben.

Tossafot zur Stelle argumentiert jedoch, dass dieses Kal WaChomer widerlegt werden kann. Tossafot stellt nicht die Gemara (Talmud) in Frage. Dies ist eher unüblich. Auf den ersten Blick stellt er die Argumentation von Mosche Rabbejnu in Frage; Mosches Argument überzeugt nicht. Tossafot legt dar, dass das Argument, dass ein Mumar kein Pessachopfer essen darf, nicht ausreicht. Denn beim Pessach-Opfer gibt es ein Gesetz, dass der jetzige Zustand des Juden bestimmt, ob er am Pessach-Opfer teilnehmen darf. Dieses Argument hätte Mosche nicht davon abhalten sollen, die Gesetzestafeln zu übergeben. Warum? Die Übergabe der Torah hätte die Juden zur Umkehr bringen können, sie hätte sie dazu bringen können, ihren Irrglauben zu erkennen und den Status von Mumarim abzulegen. Hat Mosche Rabbejnu noch nie etwas von der Ba’alej Teschuwa-Bewegung (Rückkehr zum Glauben) gehört? Was soll denn dieser Kal WaChomer? Dies ist Tossafots Frage.

Rav Pam erklärt, dass Tossafot in Wirklichkeit nicht Mosche in Frage stellt, sondern die Gemara. Die Gemara sagt, dass dieser Vorfall einer von drei Fällen ist, den Mosche auf eigene Faust (miDa’ato) entschied. Es stört Tossafot, dass dieser Entscheid „auf eigene Faust“ genannt wird, obwohl sich Mosche auf ein Kal WaChomer stützt. Ein Kal WaChomer ist eines der 13 logischen Prinzipien für die Auslegung der Torah. Alles, was mit diesen 13 Prinzipien gefolgert werden kann, ist integrierender Bestandteil der Torah. Ein Entscheid nach der Regel des Kal WaChomer verdient nicht den Namen „miDa’ato“, auf eigene Faust, weil dies kein intuitiver Entscheid ist. Darum, sagt Tossafot, scheint, dass die Gemara annimmt, dass dies KEIN gültiger Kal WaChomer ist. Mosche stützte sich nicht auf die Richtlinien der Halacha (jüdische Gesetzeslehre)! Das Kal WaChomer war nicht stichhaltig.

Was war es denn, das Mosche dazu trieb, die Luchot zu zerbrechen? Seine eigene, persönliche Sicht. Dies wird “Da’at Torah”, Weisheit der Torah, genannt. Mosche tat etwas, das alle anderen als “verrückt” empfanden. Mosche konnte, auf rein vernünftige Weise, nicht nachweisen, dass er recht hatte. Intuitiv spürte Mosche, dass er die Luchot zerbrechen muss und er tat dies nur wegen dieser Eingebung! Dies ist wohl das bekannteste Beispiel in der ganzen Torah eines jüdischen Führers, der einzig aufgrund von “Da’at Torah” handelte.

Mosche verfügte über keinen stichhaltigen Beweis. Er hatte keine überzeugende Begründung. Er konnte kein Buch aufschlagen und eine unwiderlegbare Erklärung vorzeigen. Er tat es, weil seine Persönlichkeit und sein Innerstes ihm sagten, dass dies das Richtige sei. Dabei nahm er es mit der ganzen jüdischen Führerschicht auf, indem er ihnen zurief: “Ich habe recht und ihr nicht!”

Im letzten Passuk (Vers) der Torah beschreibt G’tt Mosche und seine grösste Handlung, indem Er sagt: “… und die ganze starke Hand … die Mosche ausführte vor den Augen von ganz Jisrael” [Dewarim 34:12]. Raschi legt diesen Satz wie folgt aus: “Dass sein Herz ihn dazu bewog, die Luchot vor ihren Augen zu zerbrechen”. G-tt bezeugt, dass dies Mosche Rabbejnus grösste Tat war.

Rav Schlomo Heiman pflegte folgendes zu sagen: Wenn der Rambam (Maimonides) schreibt, “es scheint mir” (was bedeutet, dass er keine talmudische oder rabbinische Quelle für ein Gesetz fand), so ist dies stärker als jeder Beweis, den er hätte liefern können. Wieso? Weil der Ausdruck “es scheint mir” zeigt, dass er das ganze Gewicht seines “Da’at Torah” auf diese Meinung legt. Das Torahempfinden vom Rambam ist mehr wert als jeder mögliche Beweis. Für jeden Beweis ist ein Gegenbeweis möglich. Aber hinter dem “es scheint mir” des Rambam steht seine ganze Torah.

Die zweite Beobachtung von Rav Pam ist die folgende: Wieso zerbrach Mosche die Luchot nun wirklich? Tossafot scheint Recht zu haben. Mosche hätte das Volk wegen dem Goldenen Kalb züchtigen sollen. Er hätte ihnen sagen sollen, wie falsch sie gehandelt hatten und dass sie nochmals von vorne beginnen sollten. Schlussendlich waren sie dieselben, die, wie die Ägypter, einige Wochen früher als Götzendiener bezeichnet worden waren. (Wie die Engel argumentierten: “Diese dienen fremden Gottheiten und jene dienen fremden Gottheiten.”) Mosche hätte ein wenig mehr Geduld mit ihnen haben sollen und von ihnen nicht mehr erwarten sollen. Er hätte ihnen die Torah geben und darauf setzen sollen, dass sie sich bessern.

Was war Mosches Denkweise? Rav Pam bringt einen erstaunlichen Gedanken. Einige Wochen vorher waren sie noch in Ägypten, dienten Götzen und wussten, dass dies falsch war. Hier aber machten sie sich einen Götzen und riefen: “Dies ist dein Gott, o Israel, der dich aus dem Lande Ägypten geführt hat” [Schemot 32:4]. Wenn jemand das Judentum nimmt und versucht, es mit Awoda Sara (Götzendienst) zu versetzen und sagt: “Das ist Judentum”, so ist dies nicht einfach ein Rückfall. Dies ist eine bewusste Verdrehung des Judentums. Einen Götzen “G“tt” zu nennen ist unverzeihlich. Ein solcher Mensch oder eine solche Nation ist hoffnungslos verloren.

Dies war das Da’at Torah von Mosche gegen den ganzen Rest von Klal Jisrael (Volk Israel), inklusive den Ältesten, und deshalb dankte ihm G’tt für das Zerbrechen der Luchot mit einem “Jejascher Kochacha” (“Dank sei dir, gelobt deine Kraft!”) [Raschi – Dewarim 34:12].

 

Quellen und Persönlichkeiten:

  • Awot deRabbi Natan: Erklärung zu den Pirkej Awot (Sprüche der Väter) von den Tana’im der Mischna (Mischna-Gelehrten).
  • Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TANACH- und Talmudkommentare“.
  • Ba’alej Tossafot (“Tossafisten”): Talmuderklärer des 12. und 13. Jahrhunderts. Einige unter ihnen waren Enkel von Raschi.
  • Rambam, Akronym für Rabbi Mosche ben Maimon (Maimonides) (1135 – 1204); Spanien, Ägypten, Israel. Einer der bedeutendsten Rischonim, seine Hauptwerke sind: Das umfassende Werk zum jüdischen Recht „Mischne Tora-Jad Hachsaka“, Erklärung zur Mischna und „Moreh Newuchim“ (Führer der Irrenden / Unschlüssigen), wie weitere Werke.
  • Rav Schlomo Heiman (1893 – 1944): Rosch Jeschiwa von Torah Wo’Daat; Brooklyn, New York.

 

  • Rav Avraham Ja‘akov Pam (1913 – 2001): Führender Gelehrter; war Rosch-Jeschiwa der Jeschiwa Torah Wo’Daat in Brooklyn, New York.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

 

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