Kislew/ Paraschat Wajeschew
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Das missratene Kind (Paraschat Toldot 5786)

Was wäre, falls Ejsaw die Berachot erhalten hätte?

Was wäre, falls Ejsaw die Berachot erhalten hätte?
Foto: AI Avigail

Das missratene Kind

Rabbi Berel Wein zu Paraschat Toldot 5786

mit Ergänzungen von S. Weinmann

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Die beunruhigende Frage, die in allen Zeiten die biblischen Kommentare zur dieswöchigen Parascha beschäftigt hat, ist: Was denkt sich Jizchak hinsichtlich des Verleihens der Berachot (des Segens) und der Erbschaft Awrahams an Ejsaw? Grundsätzlich teilen sich die Kommentare und Erklärungen in zwei Kategorien. Eine davon ist, dass sich Jizchak von Ejsaw täuschen liess und sich seiner wahren Natur und seines liederlichen Verhaltens nicht bewusst war.

Raschi, der diese Meinung vertritt, zitiert den Midrasch Tanchuma zum Vers "Und Ejsaw war ein Mann, der die Jagd verstand" [Bereschit 25:27]. Der Midrasch interpretiert dies so: "Ejsaw verstand es seinen Vater mit seinem Mund "zu fangen" und zu betrügen. Er "erlegte" seinen Vater mit seiner frommen Rede und seinem durchtriebenen Gespräch. Er fragte seinen Vater z.B. "Vater, wie verzehntet man Salz und Stroh?" (Dinge, die man nicht verzehnten muss). Jizchak dachte sich, dass Ejsaw es mit den Geboten genau nehme.  Er war der Meinung, dass Esjaw, der Mann der Welt und die physisch starke Gestalt besser dazu geeignet ist, Awrahams Vision weiterzuführen als Ja’akow, der lernbegierigere und scheinbar einfachere der Brüder.

Die andere Meinung, die unter den späteren Kommentatoren der Tora stärker verbreitet ist, ist, dass Jizchak sich der Mängel im Verhalten und Benehmen seines älteren Sohnes bewusst war. Sein Wunsch, die Berachot Ejsaw zu verleihen, basiert auf seinem Wunsch, seinen Sohn zu rehabilitieren und zu retten, und Ejsaw zu befähigen, sein Leben zu ändern und ein würdiger Erbe der Traditionen seines Vaters und Grossvaters zu werden. Er denkt, dass indem er den Segen Ejsaw verleiht, dem Lebenswerk Ja’akow’s kein Nachteil entstehen wird, während Ejsaw durch die Berachot, die er erhält, seinen Weg zur Heiligkeit finden wird.

Diese zwei abweichenden Haltungen gegenüber dem missratenen Kind kommen in jüdischen Familien im jüdischen Familienleben täglich zum Ausdruck. Spätere Jizchaks erlauben sich bezüglich des Verhaltens und Lebensstils von Kindern etwas vorzumachen, oder sie sind sich des Problems voll bewusst, versuchen aber, es in willfähriger Weise und mit einer Fülle von Güte auf den richtigen Weg zurückzubringen.

Riwka, Ejsaws Mutter, lässt sich von den scheinbar beschwichtigenden Worten nicht täuschen und glaubt auch nicht, dass wenn man ihm Berachot verleiht, dies irgendeine bedeutende Veränderung in seinem gewählten Lebensstil bringen wird.  Sie nimmt eine Haltung der Klassifikation an, womit sie Ja’akow rettet und ihn zum Segen verhilft, während sie Ejsaw seinen gewählten obszönen Lebensstil weiterführen lässt.

Die Tora erzählt uns nicht das "was wäre, falls" – welches Szenario sich abgespielt, falls Ejsaw die Berachot erhalten hätte; würde er dann sein Verhalten, seine Gewohnheit, seinen Glauben und seine Mission verändert haben. Von den Worten der späteren Propheten Israels, insbesondere diejenigen von Ovadia, scheint es klar zu sein, dass Haschem Riwkas Haltung zustimmte und zugibt, dass Ejsaw nur nach langer Zeit der Geschichte und menschlicher Ereignisse rehabilitiert werden kann.

Der Schiedsspruch scheint zu sein, dass man bezüglich der schmerzhaften Unberechenbarkeit und des Fehlverhaltens von Feinden von Ja’akow scharfsichtig und realistisch sein muss, ob sie nun zu unserer unmittelbaren Familie und unserem Milieu gehören oder nicht. Es gibt viele schmerzhafte Entscheidungen, die man im Leben und insbesondere bei Beziehungen in der Familie treffen muss.

Es gibt nur wenige einfache Antworten auf verschiedene und schwierige Situationen. Vielleicht ist dies der Grund, warum die Tora selbst sich nicht zu eingehend mit den Motiven von Jizchak und Riwka befasst, sondern sich damit zufriedenstellt, die verschiedenen emotionellen Beziehungen wiederzugeben, die beide mit ihren zwei sehr verschiedenen Söhnen hatten. Die Tora betont die Rolle, die menschliche Gefühle in unserem Leben haben, und beschäftigt sich bewusst nicht mit allen Angelegenheiten der rationalen Gefühlen und Entscheidungen.

Jehi Sichro Baruch – Möge sein Andenken zum Segen sein.

Quellen und Persönlichkeiten:

Midrasch Tanchuma: Sammlung von Erklärungen und Aggadot zum Chumasch. Wird nach dem Amora (Talmudgelehrten) Rabbi Tanchuma Bar Abba benannt, da er am häufigsten in diesem Midrasch zitiert wird. Er war ein jüdischer Amora der 5. Generation, einer der bedeutendsten Aggadisten seiner Zeit.

Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak, Rabbi Schlomo Jizchaki oder Rabban Schel Jisrael (der Grosslehrer Jisraels), meist jedoch nur Raschi genannt (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland). Er war ein französischer Rabbiner und massgeblicher Kommentator des Tenach und Talmuds; „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“. Er ist einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters. Sein Bibelkommentar wird bis heute studiert und in den meisten jüdischen Bibelausgaben abgedruckt; sein Kommentar zum babylonischen Talmud gilt ebenfalls als einer der wichtigsten und ist allen gedruckten Ausgaben beigefügt.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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