Wochenabschnitt Paraschat Ki Tissa: Das Geheimnis des Kescher schel Tefillin (Knoten der Tefillin)
Rav Frand zu Paraschat Ki Tissa 5784 – Beitrag 1
Ergänzungen: S. Weinmann
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In Parschat Ki Tissa bittet Mosche von Haschem: “Lass mich doch Deine Herrlichkeit sehen” (Schemot 33:18). Haschems Antwort war: “Ich werde all Meine Güte an dir vorüberziehen lassen, und Ich werde mit Namen den Ewigen vor dir nennen, und wie Ich gnädig bin zu dem, den ich begnadigen will, und barmherzig zu dem, dessen Ich Mich erbarmen will … Du vermagst nicht Mein Angesicht zu sehen, denn kein Mensch kann Mich sehen, solange er lebt“ (Schemot 33:19-20).
Dies scheint ein seltsamer Dialog zwischen Mosche Rabbejnu und dem Ribbono schel Olam (Herr der Welt) zu sein. Raschi (Schemot 33:23) zitiert eine Gemara (Traktat Berachot 7a), dass nachdem Haschem an Mosche vorüberzogen war, Haschem ihm den Tefillin-Knoten auf der Rückseite seiner Tefillin schel Rosch (des Kopfes) zeigte. Dies ist die Bedeutung folgender Verse: “Wenn Meine Herrlichkeit vorüberzieht, so werde Ich dich in eine Felskluft stellen und Meine Hand über dich decken, bis ich vorübergezogen bin. Wenn ich Ich Meine Hand entferne, so wirst du Mich von hinten sehen, Mein Angesicht kann aber nicht gesehen werden” (Schemot 33:22-23).
Auf dieses Geschehnis beziehen wir uns in einem Reim gegen das Ende von An’im Semirot (wird an vielen Orten nach dem Mussaf-Gebet von Schabbat gesagt/gesungen): ‘Kescher Tefillin her’a leAnaw…’ (Er zeigte den Tefillin-Knoten dem Demütigen).
Tatsächlich verdeutlicht Raschi dies in Massechet (Traktat) Berachot (ibid.) auf den Vers in Bamidbar 12:8) als G-tt Aharon und Mirjam tadelte: “…und er schaut die Gestalt des Ewigen; wie habt ihr euch da nicht gefürchtet, über Meinen Diener, über Mosche zu reden?” Sagt Raschi: “… er schaut die Gestalt des Ewigen”, ‘dies bezieht sich auf den Knoten der Tefillin schel Rosch im Nacken’.
Rav Hai Gaon erklärt, dass Mosche nicht verstand, wie der Knoten am hinteren Teil der Tefillin schel Rosch aussehen sollte, und deshalb der Ribbono schel Olam ihm dies genau zeigte.
Ich sah in einem Sefer einen wunderschönen homiletischen Gedanken. Was bedeutete es, dass Mosche den Knoten der Tefillin schel Rosch nicht verstand? Meint es, dass er alles andere über die Tefillin perfekt verstand, ohne dass man ihm zeigen musste, wie sie aussehen? Konnte er sich von den Tefillin das Bajit (die Kapsel, die das Pergament enthält) oder vom Knoten der Tefillin schel Jad (der Hand) ein perfektes Bild machen? Was meint es, dass er nicht verstand, wie der Knoten der Tefillin schel Rosch aussehen sollte?
Raw Firer sagt einen interessanten Gedanken. Mehrere Male in Parschat Ki Tissa beklagt Sich Haschem über Klall Jisrael, dass sie ein hartnäckiges Volk (‘Am Keschei Oref’) seien. Lasst uns überlegen und die Frage stellen, ob es etwas Schlechtes oder Gutes ist, ein “hartnäckiges Volk” zu sein. Einerseits, wenn wir die Tatsache in Betracht ziehen, dass der Ribbono schel Olam Sich in dieser Parascha wiederholt beklagt, dass wir ein Am Keschei Oref sind, scheint es eine sehr negative Sache zu sein.
Andererseits ist die Eigenschaft der Hartnäckigkeit der jüdischen Nation eines der Geheimnisse unserer andauernden Existenz. Wären wir nicht hartnäckig, hätten wir nicht überlebt. Dies ist ein klassisches Beispiel einer der grossen Wahrheiten des Lebens, nämlich, dass es keinen Charakterzug (Midda) gibt, der entweder gänzlich gut oder gänzlich schlecht ist. Alles hängt davon ab, wie und wo und wann diese Eigenschaft verwendet wird. Wenn der Allmächtige Sich beklagt, dass Klall Jisrael ein ‘Am Keschei Oref’ ist, ist dies eine angemessene Beschwerde. Sie reflektiert die Tatsache, dass sie ein widerspenstiges und streitsüchtiges Volk waren. Sie waren eine schwierige und streitlustige Nation, und sie bereiteten Mosche Rabbejnu und (sozusagen) dem Allmächtigen viel Kummer. Andererseits jedoch haben Tausende und Abertausende von Juden über die Jahrhunderte hinweg trotz unermesslichen Verfolgungen durchgehalten. Sie waren bereit, auf Kiddusch Haschem (die Heiligung des g-ttlichen Mamens) zu sterben. Dies ist auch ein Resultat der Tatsache, dass wir ein ‘Am Keschei Oref’ sind.
Raw Firer legt nahe – und darin liegt eine Ironie – dass wir die Tefillin schel Rosch genau an jener Stelle (nämlich am Nacken) befestigen, dies symbolisiert, dass wir ein ‘Am Keschei Oref’ sind. Mosche wollte hier wissen – und der Ribbono schel Olam zeigte es ihm – wie wir den Kescher schel Tefillin schel Rosch verwenden.
Womit ist unsere Eigenschaft der Hartnäckigkeit verbunden? Wenn wir sie mit Aufsässigkeit und Ketzerei verbinden, ist es eine schreckliche Eigenschaft. Wenn jedoch die Eigenschaft des Am Keschei Oref mit Messirat Nefesch, Ausdauer und Widerstandskraft verbunden ist, wird sie in der Tat zu einer wunderschönen Eigenschaft.
Das Geheimnis des Kescher schel Tefillin ist, dass das Wesen dieser Eigenschaft der Hartnäckigkeit gänzlich vom Aspekt unserer Persönlichkeit, mit dem sie verbunden ist, abhängig ist. Wenn sie mit der richtigen Ideologie verbunden ist, wird sie wirklich etwas Gewaltiges.
Dies löst eine verwirrende Frage. In dieser Parascha haben wir drei Pessukim, in denen der Allmächtige Sich bei Mosche Rabbejnu beklagt, dass die Benej Jisrael ein hartnäckiges Volk sei. Am Ende der Parascha jedoch – ein Abschnitt, den wir an jedem öffentlichen Fasttag leinen – sagt Mosche zu Haschem: “Wenn ich Gnade in Deinen Augen gefunden habe, mein Herr, so möge doch der Herr doch bitte in unserer Mitte einherziehen – und wenn es ein hartnäckiges Volk ist, mögest Du unsere Schuld und unsere Sünde verzeihen und uns zu Deinem Eigentum annehmen!” (Schemot 34:9).
Ist dies sinnvoll? Der Ribbono schel Olam beklagt sich bei Mosche Rabbejnu wiederholt, dass die Juden ein Am Keschei Oref sind, was Ihn in Versuchung bringt, sie alle zu vernichten. Mosche Rabbejnu jedoch argumentiert, dass Haschem mit ihnen bleiben soll, weil sie ein Am Keschei Oref sind! Dies scheint folgewidrig zu sein!
Dies ist das Geheimnis, das Mosche Rabbejnu gerade gelernt hatte. Es hängt alles davon ab, was wir mit dieser Eigenschaft tun. Mosche argumentiert, dass der Allmächtige mit dem jüdischen Volk bleiben sollte, weil die Tatsache, dass sie so hartnäckig sind, der Grund ist, dass sie bereit sein werden, sich für Ihn mosser nefesch zu sein (ihr Leben herzugeben), wenn die Zeit dazu kommt.
So ist es mit jeder Midda. Es gibt keinen menschlichen Charakterzug – sei es Eifersucht, Zorn oder Hass – der nur negativ und zerstörerisch ist. Es gibt eine richtige Zeit und einen richtigen Ort für die Verwendung all dieser menschlichen Gefühle und Charakterzüge. “Alles hat seine Zeit, und es gibt eine Zeit für alles unter dem Himmel… Eine Zeit zu lieben, und eine Zeit zu hassen; eine Zeit für Krieg und eine Zeit für Frieden” (Kohelet 3:1-9).
So gibt es auch eine Zeit für Hartnäckigkeit und eine Zeit für ein weiches Verhalten. Es hat nur damit zu tun, womit die Eigenschaft verbunden ist, und dies ist das Geheimnis des Kescher schel Tefillin.
Quellen und Persönlichkeiten:
Rav Hai Gaon ben Rav Scherira Gaon (939-1038); Pumpedita (Babylonien). Rav Hai Gaon war der letzte der Geonim von Pumbedita (eine kleine Stadt in der Nähe des heutigen Bagdads, der Hauptstadt des Irak). Mit ihm endete die Ära der Geonim (die brillanten talmudischen Gelehrten, die die grossen Jeschiwot von Sura und Pumbedita leiteten), die fast 450 Jahre dauerte (etwa von 590 bis 1040). Sie waren die Nachfolger der Rabbanan Sewurai (ca. 500-590), die den Talmudgelehrten folgten. Etwa im Jahr 500 wurde der Talmud Bawli von den letzten Talmudgelehrten fertiggeschrieben.
Rav Hai Gaon war der Sohn seines ebenso berühmten Vaters Rav Scherira Gaon, Leiter der Jeschiwa von Pumbedita. Rav Hai wuchs unter der Obhut und Anleitung seines grossen Vaters auf. Als junger Mann wurde er berühmt für seine aussergewöhnliche Kenntnis des gesamten Talmud und die Schriften der Generationen von Geonim, die sorgfältig in den Archiven der Jeschiwa aufbewahrt wurden. Unter dem Einfluss der Werke von Rav Sa’adia Gaon (der letzter der Geonim von Sura, der 942 starb), wurde Rav Hai auch mit verschiedenen Wissenschaften und Sprachen vertraut.
Im Alter von 48 Jahren wurde Rav Hai zum Aw Bejt Din (Leiter des höchsten Gerichts), zweithöchstes Amt, neben dem Gaon ernannt. So hatten Vater und Sohn die beiden höchsten Ämter in der Führung des jüdischen Volkes zur gleichen Zeit inne, bis Rav Hai seinem berühmten Vater als Gaon von Pumbedita nachfolgte, kurz bevor sein Vater starb (im Jahr 998).
Die Jeschiwa von Pumbedita war das spirituelle Nervenzentrum des jüdischen Volkes. Das Haupt der Jeschiwa war die anerkannte höchste Tora-Behörde nicht nur des babylonischen Judentums, sondern des ganzen jüdischen Volkes auf der ganzen Welt. Wann immer eine Frage über ein jüdisches Gesetz und jüdischen Brauch oder über die richtige Interpretation eines Textes oder einer Passage des Talmuds auftrat, und dergleichen, wurde es den Führern der Jeschiwa in Pumbedita, vorgelegt. Aufzeichnungen solcher Fragen und Antworten wurden in den Jeschiwa-Archiven als Referenz für zukünftige Entscheidungen aufbewahrt.
(Entnommen aus chabad.org, von Nissan Mindel, veröffentlicht von Kehot Publication Society)
Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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