Nissan/ Wajikra
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“HaChodesch hase lachem – dieser Neumond ist für euch” (Parschat Hachodesch 5785)

Was symbolisiert der Mond für das jüdische Volk?

“HaChodesch hase lachem – dieser Neumond ist für euch” (Parschat Hachodesch 5785)

Was symbolisiert der Mond für das jüdische Volk?
Foto: AI Avigail

“HaChodesch hase lachem – dieser Neumond ist für euch”

Rav Frand zu Parschat Hachodesch 5785

Ergänzungen: S. Weinmann

Die erste Mizwa, die Mosche Rabbejnu vom Ewigen erhielt, finden wir in Paraschat Bo (Schemot 12:1-2): “Und der Ewige sprach zu Mosche und Aharon im Land Ägypten: ‘Dieser Neumond soll euch der Anfang der Monate sein; dieser Monat soll für euch der erste der Monate sein’.” Erklärt Raschi zur Stelle: “Erstens zeigte Haschem Mosche den Neumond am Himmel – es war der erste Nissan – und sagte ihm, immer wenn der Mond sich erneuert, sei dies für dich der Anfang des Monats. Zweitens soll dieser Monat – Nissan – der erste sein in der Reihe der Anzahl der Monate.” Dies ist die erste Mizwa, die das jüdische Volk erhielt! Dies ist das Gebot an das jüdische Gericht, den neuen Monat festzulegen und das System des Mondkalenders einzuführen, das der grundlegende Vorgang zum Überblicken der jüdischen Feiertage ist.

Unsere Weisen sagen, dass Antiochos III. (griechischer Herrscher des Seleukiden-Reiches in Mesopotamien und Syrien) versuchte, drei grundlegende jüdische Gebote auszuradieren: Schabbat, Mila (Beschneidung) und Kiddusch haChodesch (die Heiligung des neuen Monats). Wenn wir eine Umfrage über die “wichtigsten zehn Mizwot” in der Tora durchführen würden, würden viele von uns mit “Schabbat” oder “Mila” antworten, aber ich glaube nicht, dass irgendjemand sagen würde, dass Kiddusch haChodesch zu den höchsten Tora-Geboten gehört. Und doch konzentrierten sich die Jewanim (Griechen) gerade auf diese Mizwa (zusammen mit Schabbat und Mila) im Versuch, die fundamentalen Bräuche des Judentums auszumerzen. Warum war die Mizwa von Kiddusch haChodesch so grundlegend, dass es für die Griechen so wichtig war, sie abzuschaffen?

Ich habe eine sehr interessante Interpretation des Arugat Habosem gesehen. Der Arugat Habosem stellt die Frage: Ist es nicht seltsam, dass der Ribbono schel Olam, Der die Essenz dessen ist, was ewig und die Essenz von Emet (Wahrheit) ist, einen Himmelskörper wie den Mond erschuf, der sich vergrössert und wieder verkleinert? Der Mond ist hier, er wird kleiner, dann verschwindet er und dann kommt er wieder zurück. Dies ist bei einer G”ttlichen Schöpfung “ungewöhnlich”. Die Sonne ist immer anwesend, die Naturgewalten sind immer anwesend, die Schwerkraft ist immer vorhanden. Was ist mit dem Mond, der anwesend ist, dann wächst, kleiner wird, verschwindet, und wieder zurückkehrt? Warum hat Haschem so etwas erschaffen?

Der Arugat Habosem antwortet, dass etwas im Mond vorhanden ist, das für das jüdische Volk und jede einzelne jüdische Person grundlegend ist. Der Mond ist ein Symbol für uns, dass Menschen mit Perioden des Wachstums und Niedergangs durch das Leben gehen. Sie machen Zeiten durch, in denen sie aufsteigen, und gehen dann durch Zeiten, in denen sie niedergehen. Genauso wie der Mond gross und klein wird und sogar fast verschwindet, kommt er immer wieder zurück – “HaChodesch hase lachem – diese Monderneuerung ist für euch”: Dieser Verjüngungszyklus des Mondes ist wichtig für das, um was es sich bei einem Juden sowohl in Gemeinschaftlicher als auch auf individueller Ebene handelt.

Während unserer Geschichte erfuhren wir viele Zeiten, da das jüdische Volk im Aufstieg begriffen war, wie in der Zeit von David und Schlomo Hamelech (König Salamon) oder in der Periode des “goldenen Zeitalters von Spanien”. Und doch erfuhren wir auch Perioden, da wir das am meisten unterdrückte und zusammengeschlagene Volk auf der Erde waren. Wenn Leute sich in einer solchen Situation befinden, ist es sehr leicht für sie, die Hoffnung aufzugeben.

Was auf nationaler Ebene wahr ist, ist auch auf individueller Ebene wahr. Es gibt Perioden im Leben, wenn die Dinge sehr gut gehen. Ein Mensch hat das Gefühl, dass seine Zukunft strahlend und grossartig sein wird. Dann gibt es jedoch Rückschläge, wenn Menschen Perioden der Verschlechterung durchmachen. “HaChodesch hase lachem” – Chasal (unsere Weisen) sagen, dass das jüdische Volk dem Mond ähnlich ist. Dies ist der Grund, warum Haschem solch einen Himmelskörper erschaffen hat. Er wollte, dass der Mond Seinem Volk eine ethische Lektion lehrt – ein Modell für ihr Schicksal.

So erklärt der Arugat Habosem den Text der Beracha über den neuen Mond (Kiddusch Lewana) (dt. Mondheiligung, Mondweihe) oder Birkat haLewana (dt. Mondsegen). Dies ist die jüdische Segnung des Neuen Mondes. Sie findet nach dem Monatsanfang des jüdischen Kalenders (Rosch Chodesch) statt, der sich am Zeitpunkt des Neulichts (Moled) orientiert. Dort heisst es u.a:

פּוֹעֵל אֱמֶת שֶׁפְּעֻלָּתוֹ אֱמֶת. וְלַלְּבָנָה אָמַר שֶׁתִּתְחַדֵּשׁ, עֲטֶרֶת תִּפְאֶרֶת לַעֲמוּסֵי בָטֶן, שֶׁהֵם עֲתִידִים לְהִתְחַדֵּשׁ כְּמוֹתָה

 “Po’el Emet schePe’ulato Emet – Haschem, Dessen Werk wahr ist (gerecht ist) und Dessen Handlungen wahr sind (mit Gerechtigkeit den Mond verkleinert hat)”, und trotzdem “welaLewana amar schetit’chadesch – dem Mond befahl Er sich jeden Monat zu erneuern”, “Ateret Tiferet leAmutej Baten –  dass  er durch dieses periodische Muster als ethische Lektion (Mussar Haskel) für das jüdische Volk gelten solle (das jüdische Volk wird hier ‘Amutej Baten’ genannt, wie eine Frau das Kind auf den Armen trägt, nachdem es den ‘Baten-Bauch’ verlassen hat)”, “sche’hem atidim lehit’chadesch kemota – denn sie (das jüdische Volk) wird sich so wie der Mond erneuern”. Obwohl es für den Allmächtigen “ungewöhnlich” ist, etwas zu schaffen, das nicht beständig ist, tat Er es, weil die Lektion für das jüdische Volk so lebenswichtig ist, da sie dazu bestimmt sind, dem Muster des Mondes nachzuahmen und sich selbst auch zu regenerieren.

Dies ist der Grund, warum die Charakteristik des Mondes so ist, und dies ist der Grund, warum die Jewanim nicht nur Schabbat und Mila, sondern auch Kiddusch haChodesch aufheben wollten. Sogar wenn sie mit Erfolg den Schabbat von den Juden ausgemerzt und die Beschneidung ausgelöscht hätten, hätten die Juden immer noch den Begriff von Kiddusch haChodesch gehabt, und hätten auf den Kreislauf des Mondes geschaut und die Hoffnung nicht aufgegeben. Die Syrer-Griechen versuchten nicht nur, den Juden gewisse Mizwot wegzunehmen; sie versuchten vielmehr, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, sich zu erneuern. Die Jewanim wollten, dass die Juden ihre Hoffnung aufgeben. Deshalb war das Verbot von Kiddusch haChodesch für die Jewanim so wichtig; es war nicht wegen der Mizwa selbst, sondern wegen dem, was sie darstellte.

Raw Matitjahu Salomon sZl. erwähnte einst einen Gedanken, den er von Raw Chajim Schmuelewitz sZl. gehört hatte, den der letztere immer erwähnte, als er die Beracha von Kiddusch Lewana sagte. Raw Chajim Schmuelewitz traf einst einen Holocaust-Überlebenden und fragte ihn: “Wie hast du durchgehalten? Wie war es möglich, dass du nicht aufgegeben hast?” Der Jude sagte ihm, dass sie in den Lagern keine Mizwot erfüllen konnten, weder Lulaw, noch Sukka, noch Chanuka, nichts. Es gab jedoch eine Mizwa, die sie regelmässig erfüllten. Sogar unter Gefahr des Todes verliessen sie die Baracken bei Nacht, um diese Mizwa zu erfüllen. Dies war die Mizwa von Kiddusch Lewana. Einen Mond gab es immer.

“Wir schauten auf den Mond und wir nahmen die Lektion ‘denn sie (das jüdische Volk) wird sich so wie der Mond erneuern’ zu Herzen. Dies gab uns Juden Hoffnung”. Dies ist der Grund, warum Kiddusch haChodesch und Kiddusch Lewana so ausschlaggebend ist. Es ist die Geschichte des jüdischen Volkes, und es ist die Geschichte von individuellen Menschen, sich zu steigern, Rückschläge hinzunehmen, fast zu verschwinden und wieder aufzustreben.

Es gibt eine erstaunliche Gemara (Traktat Schabbat 147b), die ich nur schwer verstand und immer noch nicht gänzlich verstehe. Raw Chelbo erklärte, dass der Wein von Perugita und die Gewässer des Dejomses die zehn Stämme verdarben. Es gibt einen Ort, wo der Wein hervorragend, äusserst berauschend und überaus verlockend ist. Es gibt einen anderen Ort, wo die heissen Quellen übernatürlich sind. Der Talmud erklärt, dass die zehn Stämme sich diesen Vergnügen hingaben, deswegen aufhörten sich mit der Tora zu beschäftigen, verdarben und deshalb vertrieben wurden und verschwanden. Der Talmud erzählt, dass der Tanna (Mischna-Gelehrte) Rabbi El’asar ben Arach zu diesen Orten mit den hervorragenden Weinen und den speziellen Bädern ging und von ihnen sehr angezogen wurde. Er genoss sie so sehr, dass er sein Lernen vergass! Als er zurückkehrte und sich hinstellte in der Tora zu lesen entstellte er den Passuk “HaChodesch hase lachem” (Schemot 12:2). Er las die Worte als “HaCheresch haja Libam” (ihre Herzen wurden stumpf). Der grosse Tanna vertiefte sich so in die Körperlichkeit des Weines und der heissen Quellen, dass er sogar vergass, Hebräisch richtig zu lesen! Die Gemara schliesst mit den Worten, dass die Weisen den Himmel um Gnade für ihn baten und alles Gelernte wieder zurückkam.

Der Arugat Habosem kommentiert folgendes zur Symbolik der Geschichte:

Warum las er von allen Pessukim (Verse) der Tora ‘per Zufall’ die Worte “HaChodesch hase lachem” als “HaCheresch haja libam?” Die Antwort ist, dass Chasal versuchen uns zu sagen, dass die Worte “Hachresch haja libam” auch “HaChodesch hase lachem” enthalten. Die Fähigkeit, auf solch einen Tiefpunkt zu gelangen, dass man nicht einmal die Worte richtig lesen kann, bedeutet nicht, dass alles verloren ist. Mit einer nur kleinen Veränderung des “Hachresch haja libam” verändern sich die Worte in “HaChodesch hase lachem”. Deshalb konnte Rabbi El’asar ben Arach, wie tief er auch sank, wieder zurückkehren. Die Macht des “dieser Neumond ist für euch” ist die Macht der himmlischen Sphäre, die vom jüdischen Volk nachgeahmt wird. Es ist dazu bestimmt, sich wie der Mond zu erneuern. Die Fähigkeit der Wiedergeburt, die Fähigkeit der Erneuerung, und die Fähigkeit des Wiedererwachens definieren das jüdische Volk. Wir alle haben diese Fähigkeit.

Quellen und Persönlichkeiten:

Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.

Rabbi Mosche ben Amram Grünwald (1853–1910). Ab seinem 16. Lebensjahr studierte er an der Pressburger Jeschiwa bei dem prominenten Rabbi Awraham Schemul Binjamin Sofer (Schreiber), dem ‘Ketav Sofer’. Er lernte zusammen mit seinem guten Freund Rabbi Josef Chajim Sonnenfeld, der später Rabbiner von Jerusalem wurde. Im Alter von 17 Jahren verschied sein Vater, und die Last, für die Familie zu sorgen, fiel auf seine Schultern. Er war gezwungen, im Holzhandel zu arbeiten, aber zusätzlich setzte er seine Ausbildung mit grosser Ausdauer fort.

Im Alter von sechsundzwanzig Jahren wurde er Rabbiner in Humenné (Ungarn, heute  Slowakei). 1887 wurde er Rabbiner von Kisvárda (Ungarn). Im Jahr 1893 wurde er Rabbiner in der bekannten Stadt Chust (Ungarn, heute Ukraine). Er vergrösserte dort die Jeschiwa, bis zu einer der grössten Jeschiwot in Ungarn wurde. Rabbi Mosche Grünwald stammte aus einer nicht-chassidischen Familie, wurde aber als junger Mann ein Chassid des zweiten Belser-Rebben, Rabbi Jehoschua Rokeach.  Er verfasste viele Werke, wie Arugat Habosem Erklärungen zum Chumasch, Arugat Habosem Responsen, etc.

Rav Chajim Schmuelewitz (1902 – 1978), Schwiegersohn von Rabbi Elieser Jehuda (Lejser Judel) Finkel. Rosch Jeschiwa in Mir (Litauen), Schanghai (China) und Jerusalem. Autor des Buches “Schaj Le’Torah “.

Rav Matitjahu Chajim Salomon (1937-2024), war ein englisch-amerikanischer Rabbiner, Dozent, bekannter Redner und Maschgiach (geistiger Leiter und Ratgeber) der Gateshead Jeschiwa (GB) mehr als 30 Jahre, und danach Maschgiach der Lakewood Jeschiva (N.J., USA). 

 

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