Siwan / Paraschat Nasso
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Reb Suscha’s Tanz

Die Essenz von Schawuot

Reb Suscha’s Tanz

Die Essenz von Schawuot
Foto: AI Avigail

Reb Suscha’s Tanz

Reb Suscha’s Tanz – Perspektiven zu Schawuot 5785 – Beitrag 2

Ergänzungen: S. Weinmann

Aus DJZ, Nr. 23/24, Siwan 5784/Juni 2024

Rabbi Schmuel Botnik

Es sind wahrscheinlich die beiden berühmtesten Brüder in der chassidischen Tradition: Der Rabbi Reb Elimelech von Lizensk und der Rabbi Reb Suscha von Anipoli. Ich hatte gedacht, ich hätte schon all ihre Geschichten gehört, aber vor kurzem habe ich eine neue gehört, die Rabbi Secharia Wallerstein erzählt hat. Und wie jede lehrreiche Geschichte muss auch diese erzählt werden.

Die beiden Brüder wurden einmal unter falschen Anschuldigungen verhaftet. Beinahe alle chassidischen Rebbes der Vergangenheit waren einmal im Gefängnis. Das geht eigentlich zurück auf Josef in Ägypten. Es war keine Folge mangelnder Frömmigkeit oder, G”tt bewahre, von irgendetwas Negativem, das sie getan hatten. Es war ein Weg, die Funken der Heiligkeit vom niedrigsten Ort aus aufzuheben, sich mit Haschem vom Boden der Welt aus zu verbinden und eine Nähe zu erfahren, die man nur am tiefsten Punkt spüren kann.

Die Brüder wurden in eine enge Zelle geworfen, die bereits voll von Raufbolden, Mördern, Abschaum, Degenerierten und absolut schlechten Menschen war. Als der Wärter sie in die Zelle warf, lachte er und wies sie auf einen Eimer in der Ecke hin, um ihnen zu sagen, dass dies ihre Toilette sei.

Das war zu viel für Reb Suscha. Er warf sich auf den Boden und begann zu weinen und zu jammern. Reb Meilech, sein Bruder, war fassungslos. Dies war nicht der Suscha, der immer daran geglaubt hatte, dass alles, was Haschem macht, zum Guten ist. Reb Meilech wandte sich an seinen Bruder und wies ihn zurecht. Sein Verhalten sei ein Chillul Haschem (Entweihung des G-ttlichen Namens). Ihre Zellengenossen würden denken, dass er die Hoffnung aufgegeben hatte. Warum weinte er so?

Reb Suscha wandte sich an seinen Bruder und sagte ihm unter Tränen: “Wie kannst du nicht weinen? Verstehst du denn nicht? Wir sitzen hier in der Zelle mit diesem Eimer fest, und wir können weder lernen noch an die Tora denken, es ist auch verboten zu dawenen (beten). Was sollen wir tun? Wie können wir ohne Tora, ohne Mizwot und ohne Tefilla leben?” Reb Meilech dachte ein paar Minuten lang über die herzzerreissendende Klage seines Bruders nach und hatte dann eine Erleuchtung. Er erklärte, dass sie mit dem Nicht-Lernen und Nicht-Dawenen die Halacha erfüllten, die ihnen eben dies verbietet. Alles Nichtlernen und Nichtbeten war also tatsächlich Gehorsam gegenüber dem Razon Habore (G-ttliche Wille).

“Es ist unglaublich”, sagte er, “in jeder Sekunde, die wir hier sind, erfüllen wir eine Mizwa, weil wir keine Tora studieren. Wann sonst werden wir jemals eine so heilige Gelegenheit haben, Haschem zu dienen, indem wir Ihm nicht dienen?”

Reb Suschas Gesicht erhellte sich. Er begann zu lächeln. Er begann zu tanzen. Er war so begeistert, dass er den Eimer in die Hand nahm und damit herumfuchtelte, als wäre er ein Lulaw und ein Etrog. Aschrejinu, ma tow Chelkejnu! Wie glücklich können wir uns schätzen, dass wir eine Mizwa bekommen haben! Wie unglaublich ist Haschem, dass Er uns ein solches Gebot gegeben hat!

Nun waren die Zellengenossen, die diesen Rabbi zunächst für etwas seltsam gehalten hatten, ziemlich verwirrt, wie man sich vorstellen kann, wenn man jemanden mit einem schmutzigen Eimer in der Hand tanzen und singen sieht. Einer sagte den anderen, dass dieser Rabbi wahrscheinlich für ein Wunder bete, dass sie aus dem Gefängnis befreien würde. Die anderen beschlossen schnell, dass sie in diesem Fall nicht passiv bleiben sollten, und stellten sich hinter den Rabbi und begannen ebenfalls zu tanzen und zu singen. Es war ein beeindruckender Anblick.

Plötzlich hörte der Wärter den Tumult und kam in die Zelle, um nach dem Rechten zu sehen. Als einer der Gefangenen ihm erzählte, was vor sich ging, schnitt der Wächter eine Grimasse. Schnell befahl er Reb Suscha, ihm den Eimer zu bringen, und wusch ihn vollständig aus. Dann warf er ihn zurück in die Zelle und sagte ihnen, dass sie ihn nicht mehr benutzen dürften. Jeder, der sich erleichtern müsse, solle den Wärter rufen, und man würde ihn zur Toilette begleiten. Das war’s!

Als er die Tür zuschlug, drehte sich Reb Suscha zu seinem Bruder um, und beide umarmten den leeren, sauberen Eimer. Jetzt durften sie zum ersten Mal die Worte sagen, die in ihrem Herzen waren, die alles verkörperten, wofür sie lebten. “Schema Jisrael, Haschem Elokejnu Haschem Echad”.

Haschem ist Derselbe, wenn wir Seine Gebote erfüllen können – und auch, wenn wir Seine Gebote nicht erfüllen dürfen. Er ist immer der Gleiche. Es gibt nie einen Moment, in dem wir nicht mit Ihm verbunden sein können. Er ist Eins, und wir sind immer eins mit Ihm.

Ich denke über diese Geschichte nach, wenn wir uns Schawuot nähern. Am Pessach verliessen wir Mizrajim; es war wie unsere Verlobung; Schawuot ist die Chuppa. Die Tora und unsere Zustimmung zu ihr war der Ring, der uns für immer aneinandergebunden hat. Wir haben die Stufe von “Kudscha Berich Hu, weOraita, weJisrael chad hu – Der Heilige, gelobt sei Er, die Tora und Jisrael ist eins” erreicht. Und das Faszinierende daran ist, dass wir noch nicht einmal richtig angefangen hatten, die Tora zu lernen.

Tatsächlich tanzen und singen wir nur am Simchat Tora mit der Tora, denn erst dann feiern wir die Vollendung des Lernens der Tora. Doch es gibt eine Simcha von Schawuot, die dem Lernen der Tora vorausgeht. Die Gemara in Pessachim (68b) sagt, dass die Simcha von Schawuot sogar noch grösser ist als diejenige anderer Feiertage. Während es an anderen Feiertagen eine Diskussion darüber gibt, ob es einen Aspekt des körperlichen Vergnügens geben sollte oder ob es “kulo la’Haschem (gänzlich G-tt gewidmet)” sein soll, sind sich an Schawuot alle einig, dass man da auch  lachem” haben muss – etwas körperliches Vergnügen “für dich”; eine gute Se’uda, eine vorzügliche Mahlzeit. Wir essen sogar Milchprodukte, damit auch diejenigen, die nicht so viel Fleisch vertragen und ihre Pasta oder Blintzes lieben, etwas davon haben.

Was ist diese Simcha? Es ist der Tanz von Reb Suscha. Es ist der Tanz, der uns geschenkt wurde, damit wir uns immer, unter allen Umständen, mit Haschem verbinden können. Wenn wir dawenen, sprechen wir zu Haschem, und wenn wir lernen, spricht Haschem zu uns. Und wenn wir in einer Situation sind, da es verboten ist Tora zu lernen, sind wir dadurch auch mit dem Allmächtigen verbunden.

Jeder andere Feiertag hat ein Symbol, das mit ihm verbunden ist. Pessach ist Chag Hamazzot, Sukkot hat den Lulaw, den Etrog und unsere Sukka. Chanukka hat die Menora und sogar Lag Baomer bekommt ein Freudenfeuer.

Aber am Schawuot haben wir nichts. Vor neunundvierzig Tagen verliessen wir gerade die unterste Stufe der Tum’a (Unreinheit). Und dann zählten wir auf 49 und hörten, wie Haschem zu uns sprach. Wir wurde eine ‘Chefza schel Simcha’ (Gegenstand der Freude). Wir sind die Geliebten von Haschem. Bei einer Hochzeit braucht man keine weiteren Ausstattungsgegenstände, keine “Sticks”, um beSimcha zu sein (in Freude zu geraten). Es geht nur um die Kalla. Die Kalla, die geliebt wird, die eins geworden ist mit ihrem Chatan. Dieses “lachem” lässt uns die Freude und den Tanz in uns finden.

Der Neziw weist darauf hin, dass der Passuk in Wa’etchanan (Dewarim 4:9-10) betont, dass wir “sehr auf uns und unsere Seelen aufpassen müssen…, um niemals den Tag zu vergessen, an dem wir am Chorew standen”. Dort sagte Haschem zu Mosche (ibid.): “Versammle das Volk zu Mir, und Ich werde sie Meine Worte hören lassen.” Einfach gelesen scheint dies ein Gebot zu sein, sich dauernd an den Ma’amad Har Sinai (Tag von Kabbalat Hatora) zu erinnern. Jedoch, erklärt der Neziw, dass Mosche uns ermahnt, “auf unseren Körper und unsere Seele aufzupassen, damit das Studium der Tora uns nicht das vergessen lässt, was unsere Augen gesehen haben – dass Haschem die Asseret Hadibrot (zehn Gebote) mit Feuer auf dem Har Sinai gesprochen hat.

Manchmal sind wir so in unser Lernen vertieft, meint der Neziw, dass wir vergessen, dass die Tora mehr ist als nur ein Gegenstand des Studiums. Sie ist das Wort des Allmächtigen. Sie ist unser Ehering. Wir sind die Kalla (Braut). Sie sollte uns jedes Mal Simcha bringen, wenn wir den Ring umdrehen. Jedes Mal, wenn wir ein Sefer öffnen. Manchmal vergessen wir, wie glücklich wir uns schätzen können, sie zu haben und was die Tora für uns bedeutet.

Was wäre, wenn wir keine Tora und keine Mizwot hätten, chas weschalom (G-tt behüte)?

Haschem hat uns einen Feiertag wie Schawuot gegeben, an dem es nur uns und Haschem und die Tora gibt, damit wir die ganze Nacht aufbleiben und lernen, als wäre es die erste Nacht, damit wir wirklich tanzen können und zu schätzen wissen, wie glücklich wir sind. Wie besonders es ist, auserwählt worden zu sein. Aschrejnu, ma tow Chelkejnu!

Quellen und Persönlichkeiten:

Rabbi Elimelech von Lyschansk (Lizensk, Leżajsk, Polen), (1717 – 1787); chassidischer Rabbiner und Zaddik und einer der Begründer des Chassidismus in Galizien. Rabbi Elimelech war Schüler des grossen Maggid, Rabbi Dow Bär von Mesritsch. Nach dem Ableben von Rabbi Dow Bär (1772) ließ er sich im galizischen Stetl Lyschansk nieder, das in der Folge zu einem wichtigen chassidischen Zentrum wurde.

Rabbi Meschullam Sussja (Susche) von Anipoli (Hanipol), Polen, heute Ukraine; (1718 – 1800), ein Bruder von Rabbi Elimelech von Lyschansk, war ein chassidischer Rabbiner und Zaddik und einer der Begründer des Chassidismus in Polen.

Neziw: Akronym für Rav Naftali Zwi Jehuda Berlin (1817 – 1893); Rosch Jeschiwa der berühmten Woloschiner Jeschiwa fast 40 Jahre lang, bis sie von der russischen Regierung im Jahr 1892 geschlossen wurde. Verfasser einiger sehr bekannter Werke wie: Ha‘amek Dawar, Ha‘amek Sche’ejla, Mejschiw Dawar, etc.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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