Der Magen Awraham lehrt uns keine Segulot (übernatürliche Hilfsmittel)
Der Magen Awraham (Kommentar zum Schulchan Aruch) schreibt: “Einmal konnte ein Ba’al Tokea (der Schofar-Bläser) aus seinem Schofar keinen Ton herausbringen, also nahm er den Schofar und flüsterte ins breite Ende des Schofars den Passuk “Wihi Noam… Möge das Wohlgefallen (die Schechina) des Herrn, unseres G”ttes, über uns sein; stärke bei uns das Werk unserer Hände (lass das Werk erfolgreich sein), das Werk unserer Hände, stärke es” (Tehillim/Psalm 90:17). Daraufhin war der Schofar wieder fähig die Tüne hervorzubringen (Orach Chaim, Siman 585).
Der Tolner Rebbe schlita stellt drei Fragen zu diesem Magen Awraham:
- Warum erzählt uns der Magen Awraham dies? Der Magen Awraham erzählt normalerweise keine wundersamen Vorfälle und lehrt uns in der Regel auch keine Segulot (übernatürliche G”ttliche Hilfsmittel, um Dinge zu erreichen). Der Magen Awraham war so arm, dass er nicht immer Papier besass und manchmal sogar auf die Wände seines Hauses schreiben musste. Und was er schrieb, war mit der absolut möglichen Kürze. Er war sicherlich nicht dazu geneigt, Platz und wertvolles Papier zu verschwenden, um uns wunderbare Vorfälle zu erzählen.
- Was ist so speziell an diesem Passuk, dass der Ba’al Tokea dies aussprach? Wenn er einen Passuk aus Tehillim rezitieren wollte, hätte er passendere sagen können, wie: “G”tt erhebt Sich beim Terua-Blasen, der Ewige beim Klang des Schofars” (Tehillim 47:6), oder “Blast in das Schofar bei der Monderneuerung, am festgelegten Tag unseres Festtages” (Tehillim 81:4). Was hat der Vers in Tehillim 90:17 jedoch mit dem Blasen des Schofars zu tun?
- Wenn man das Schofar nicht dazu bringen kann, einen Ton hervorzubringen – auf welche Seite des Instruments sollte man dann einen Segula-Vers einflüstern? Er sollte offensichtlich in die enge Seite eingeflüstert werden. Bekanntlich blasen wir von der engen Seite des Schofars, basierend (gemäss dem Lewusch) auf dem Passuk “Min haMejzar karati Kah… – Aus der Enge rief ich Haschem an…” (Tehillim 118:5). Warum flüsterte der Ba’al Tokea in diesem Fall den Vers in die breite Seite des Schofars?
Der Tolner Rebbe erklärt, dass dieser Magen Awraham keine wundersamen Vorfälle mitteilt und uns auch keine Segulot lehrt – er erzählt uns die Basis von Rosch Haschana. Er erzählt uns die Basis von Teschuwa und vom Leben selbst.
Wann wurde dieser Passuk “Wihi Noam… Möge das Wohlgefallen des Herrn, unseres G”ttes, über uns sein; stärke bei uns das Werk unserer Hände, das Werk unserer Hände, stärke es” zum ersten Mal gesagt? Er wurde bei der Fertigstellung des Mischkan (Stiftzelt) durch Mosche Rabbejnu gesagt. Das Mischkan war ein Parade-Beispiel einer Situation, in der die Menschen keine Beziehung zum Bau, zur Kunstfertigkeit oder zu den nötigen Fähigkeiten für die vielen Aufgaben hatten, die benötigt wurden, um dieses Projekt fertigzustellen. Aufgrund ihrer eigenen Fähigkeiten und Talente gab es keine Möglichkeit für sie, das Mischkan herzustellen. Und doch befahl der Ribbono schel Olam (Herr der Welt) den Sklaven aus Ägypten, die bis anhin nur Feldarbeit geleistet hatten, ein kunstreiches Mischkan herzustellen und aufzubauen. Wie können wir dieses unwahrscheinliche Vorkommen verstehen?
Die Antwort ist, dass das Bauen des Mischkan den Juden eine fundamentale Lektion des Lebens lehrte. Die Lektion ist: “Man muss es versuchen.” Wenn wir unseren Teil tun, können wir hoffen, dass der Ribbono schel Olam unsere Gebete beantworten und unsere Bemühungen mit Erfolg krönen wird. Dies ist der wegweisende Teil des Passuks: “Möge das Wohlgefallen des Herrn, unseres G”ttes, über uns sein; stärke bei uns das Werk unserer Hände (lass das Werk erfolgreich sein), das Werk unserer Hände, stärke es.”
Als das Mischkan fertiggestellt wurde, konnten die Menschen es nicht aufstellen. Mosche Rabbejnu versuchte es. Plötzlich hatte er das Verdienst, das Mischkan aufstellen zu können. Wenn der Allmächtige ein Mischkan haben wollte, warum sandte Er uns nicht einfach ein Mischkan vom Himmel, wie Er es laut mehreren Meinungen mit dem Dritten Bejt Hamikdasch tun wird (siehe Raschi Traktat Sukka Ende 41a)? Die Antwort ist, dass der Ribbono schel Olam uns eine Lektion erteilt – deine Aufgabe ist es, zu tun. Leiste dein Bestes – sogar, wenn die Aufgabe dir als unmöglich erscheint – und Ich werde es möglich machen und ausführen lassen.
Dies ist, was der Magen Awraham uns zu sagen versucht. Der Ba’al Tokea versuchte zu blasen, und es gelang ihm nicht. So sagte er zum Allmächtigen: “Herr der Welt, Du willst, dass wir am Rosch Haschana Schofar blasen. Es geschieht nichts. Wir haben es versucht. ‘Möge das Wohlgefallen (die Schechina) des Herrn, unseres G”ttes, über uns sein’. Wir haben eine ernste Anstrengung unternommen, so wie sie beim Mischkan eine ernste Anstrengung unternahmen. Das Restliche liegt an Dir.”
Dies ist der Grund dafür, dass er diesen Passuk in die breite Seite des Schofars flüsterte. “Aus der Enge rief ich Haschem an…”; ich sollte eigentlich aus der engen Seite des Schofars blasen. Ich habe dies versucht. Es ist mir nicht gelungen. Jetzt benötigen wir (die zweite Hälfte des Passuks, der mit “Aus der Enge rief ich Haschem an…” beginnt) “… G”tt erhörte mich im Geräumigen (in Breite).” Jetzt liegt es an Dir. Dies war der Grund, warum der Ba’al Tokea den Passuk in die breite Seite des Schofars flüsterte. Dies erklärt in Wirklichkeit den ganzen G”ttesdienst am Rosch Haschana. Chasal (unsere Weisen) sagen, dass wir das Schofar blasen, um den Allmächtigen zu ermutigen, Sich sozusagen vom Thron des Gerichts (Kissej Hadin) zu erheben und Sich auf den Thron der Gnade (Kissej Harachamim) zu setzen. Wenn G”tt barmherzig sein will, kann Er direkt zum Thron der Gnade gehen. So funktioniert es jedoch nicht. Wir müssen etwas tun. Indem wir das Schofar blasen, tun wir es. Wir inspirieren den Allmächtigen gewissermassen, Sich vom Kissej Hadin zu erheben und Sich zum Kissej Harachamim zu begeben.
In unserer beschwerlichen Aufgabe, jedes Jahr Teschuwa zu tun, werden wir vom Gedanken verfolgt, dass all unsere Anstrengungen in früheren Jahren, dieses Ziel zu erreichen, nicht immer 100% erfolgreich waren. Dies ist jedoch der Gedanke, mit dem wir diese Aufgabe angehen müssen. Wir müssen unseren Teil tun. Vielleicht wird Hakadosch Baruch Hu uns dieses Jahr dadurch die G”ttliche Hilfe gewähren, die Er uns eventuell in der Vergangenheit nicht ganz gewährt hat, und wir werden es tun können.
Dies ist, was der Magen Awraham uns bei diesem Vorfall sagen möchte. Es ist nicht, um uns eine Segula zu geben, die uns sagt, wie wir das Schofar zum Ertönen bringen können. Er lehrt uns, wie wir auf Rosch Haschana zugehen sollen und wie wir den Dienst des Tages angehen sollen. Er lehrt uns, wie wir uns der gesamten Aufgabe der Teschuwa zuwenden sollen. Es gibt eine fundamentale Voraussetzung, die lautet, damit zu beginnen, unsere eigenen Anstrengungen für diese Aufgabe zu unternehmen.
Dies ist nicht nur die Wahrheit über Rosch Haschana und den Dienst des Tages; dies ist eine Wahrheit für das gesamte Leben. Es gibt so viele Dinge im Leben, die schwer sind, wobei zum Beispiel die Erziehung von Kindern dazu gehört. Wie sollen wir es tun? Es ist so schwierig. Wir müssen beginnen ernsthafte Anstrengungen zu unternehmen; dann wird der Ribbono schel Olam uns helfen, die Aufgabe zu Ende zu führen.
Es gibt einen Midrasch in Schir Haschirim, der über einen Vorfall mit Raw Chanina berichtet. Raw Chanina sah, wie Leute nach Jeruschalajim hinaufzogen, und er war eifersüchtig auf sie, als er sah, welch schöne Korbanot (Opfer) sie mitbrachten. Er ging in einen Wald und fand einen wunderschönen Felsen. Er polierte ihn auf Hochglanz und wollte ihn so zum Vorhof des Bejt Hamikdasch bringen, aber er war ihm zu schwer. Der Midrasch sagt, dass er versuchte, Arbeiter anzustellen, die jedoch eine übertriebene Gebühr forderten. Der Midrasch erzählt weiter, dass er sich dann umdrehte und plötzlich fünf “Leute” wie aus dem Nichts erschienen (sie waren nicht wirklich Leute, sondern Engel). Sie sagten: “Wir werden den Felsen für fünf Sela’im (ein minimaler Preis) unter der Bedingung tragen, dass du uns hilfst.” Die “Leute” trugen den Felsen zusammen mit Raw Chanina nach Jeruschalajim. Als sie zum Bejt Hamikdasch kamen, drehte sich Raw Chanina um und die “Leute” waren verschwunden.
Was lehrt uns der Midrasch? Der Midrasch lehrt uns dieselbe Lektion. Manchmal erscheinen uns Dinge als unmöglich. Wie werden wir dies je tun können? Wir müssen die Anstrengung unternehmen, wie die Engel Raw Chnina sagten “…unter der Bedingung, dass du mitmachst.” Wenn wir dies so anpacken, werden wir die Sijata Dischmaja (Hilfe vom Himmel) verdienen, die Aufgabe zu erfüllen.
“Wihi Noam… Möge das Wohlgefallen (die Schechina) des Herrn, unseres G”ttes, über uns sein; stärke bei uns das Werk unserer Hände (lass das Werk erfolgreich sein), das Werk unserer Hände, stärke es!”
Quellen und Persönlichkeiten:
Rabbi Abraham Abele Halevi ben Chaim Gombiner (ca. 1635 – 1682), Gąbin (Gombin), Kalisch, Polen. Rabbiner, Talmudist und eine führende religiöse Autorität in Polen. Sein berühmtes und sehr festlegendes Werk ist der Magen Awraham, Kommentar zum Schulchan Aruch–Orach Chajim von Rabbi Josef Karo. Seine Eltern wurden bei den Chmelnyzkyj-Massakern 1648 ermordet.
Tolner Rebbe, Rabbi Jizchak Menachem Weinberg, (zeitgenössischer Rebbe und Redner), leitet die Tolner Gemeinde in Jerusalem und ist ein gefragter Dozent.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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