Siwan / Paraschat Nasso
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Engelhafte Menschen (Perspektiven zu Shawuot)

Der Hauptzweck der Tora!

Engelhafte Menschen (Perspektiven zu Shawuot)

Der Hauptzweck der Tora!
Foto: AI Avigail

Engelhafte Menschen

Perspektiven zu Schawuot 5785

Ergänzungen: S. Weinmann

Aus DJZ, Nr. 23/24, Siwan 5784/Juni 2024

Von Rabbi Pinchos Lipschutz

Schawuot, der Tag steht vor der Tür. An diesem Tag wurde die Tora von ihrem himmlischen Aufenthaltsort geholt und an die Sterblichen weitergegeben. Wir feiern den sechsten und siebten Siwan als die Tage, die unser Volk von allen anderen Völkern der Welt unterscheiden. Nur die jüdische Religion feiert die Offenbarung G”ttes an Millionen von Menschen. Nur wir können für uns in Anspruch nehmen, das Wort G”ttes – buchstäblich – durch die Augen und Ohren einer Menschenmasse gesehen und gehört zu haben.

An diesem Tag standen wir am Fusse des Har Sinai und hörten die Stimme von Haschem. Mit der Übergabe der Tora wurde das jüdische Volk geboren.

Der Talmud in Pessachim (68b) bringt – wegen einem Widerspruch in den Ausdrücken der Tora – zwei Meinungen, wie die Jom-Tov-Tage (der drei Wallfahrtsfeste, zu denen auch Schawuot zählt), abgehalten werden soll. Einmal steht “ein Fest für den Ewigen” und ein anderes Mal “ein Fest für euch”. Rabbi Elieser sagt: Die Tora gibt uns zwei Möglichkeiten, oder Kulo LaHaschem” oder “Kulo lachem”, oder “alles dem Ewigen” oder “alles für euch”. Rabbi Jehoschua sagt – und so ist auch die Halacha – dass eine Hälfte dem Dienst an Haschem gewidmet sein soll, und die andere Hälfte für unseren eigenen Nutzen (körperliche Vergnügen). In der Sprache der Gemara heisst das: “Chezja laHaschem weChezja lachem”. Sagt Rabbi El’asar, dass am Schawuot-Fest alle der Meinung sind, dass es auch für unseren eigenen Nutzen (körperliche Vergnügen) – wie z.B. festliche Mahlzeiten – verwendet werden sollte. Das bedeutet, dass es nicht genügt, die Tora einfach zu akzeptieren. Es genügt nicht, die Tora nur zu lernen. Wir müssen unsere Freude auch in weltlichen Angelegenheiten zum Ausdruck bringen. Wir müssen die Lehren der Tora verinnerlichen, damit wir bessere Menschen werden. Die Tora muss unsere Seele berühren und unser ganzes Handeln und Wandeln beeinflussen. Wenn wir die ganze Nacht aufbleiben, um zu lernen, aber dann nach Hause kommen und reklamieren, weil man uns kein Frühstück vorbereitet hat, dann haben wir erbärmlich versagt.

“Chezja laHaschem wechezja lachem”. Wir müssen zeigen, dass wir nicht nur “religiös” sind, wenn es ums Lernen und Dawenen geht. Wir sind auch “fromm” in der Art und Weise, wie wir uns verhalten, wenn wir unseren normalen, alltäglichen Beschäftigungen nachgehen.

Die Worte von Raw Josef in der Gemara Pessachim (68b) werden oft zitiert, um die aussergewöhnliche Kraft des Tages zu vermitteln. Am Schawuot liess er ein vorzügliches Kalb schächten und nahm dann eine feine Mahlzeit ein. Er erklärte darauf: “I law haj Joma dekagarim, kama Josef ika beSchuka – wenn es diesen Tag nicht gebe, gäbe es keinen Unterschied zwischen mir und all den anderen Josefs auf der Strasse”.

Raw Josef wollte damit unterstreichen, dass das Studium der Tora nicht nur eine intellektuelle Beschäftigung ist. Sie verwandelt diejenigen, die sich ihr widmen und sich bemühen, bessere und heiligere Menschen zu werden.

Wenn wir dieselbe Person bleiben, die wir vor dem Lernen und Kijum Hamizwot (Erfüllung der Gebote) waren, dann sind wir nur ein Josef unter vielen. Wenn unser Limud haTora uns nicht verändert, sind die Geschenke dieses Tages verschwendet worden.

Die Tora ist ein Geschenk von Haschem an den Menschen, aber sie beinhaltet Verpflichtungen. Der Feiertag und die damit einhergehende Freude sind für diejenigen reserviert, die sich so verhalten, wie Raw Josef es tat, die ihr Leben in eine stetige Aufwärtsbewegung steuern. Der Passuk berichtet: Als Haschem den Benej Jisrael die Tora anbot, antworteten sie unisono: “Na’asse weNischma – wir werden tun und wir werden hören”. Der Talmud im Traktat Schabbat (88a) zitiert Rabbi Sima’i: “Als sie auf diese Weise antworteten und ‘Na’asse’ dem ‘Nischma’ vorzogen, kamen 600’000 Engel vom Himmel herab und setzten jedem Jehudi zwei Kronen (Raschi: vom Glanz der Schechina) auf den Kopf, eine für ‘Na’asse’ und eine für ‘weNischma’. Rabbi El’asar sagt, dass ein Bat Kol (himmlische Stimme) ertönte, die sagte: “Wer hat meinen Kindern dieses Geheimnis verraten, ein Ausdruck, der allgemein von den Engeln benutzt wird?”

Viele Kommentatoren fragen sich, was an den Worten ‘Na’asse weNischma’ so aussergewöhnlich war, dass wir dafür so gelobt wurden. Vielleicht liegt die Besonderheit darin, dass sie verstanden hatten, dass Handeln wichtiger ist als Zuhören. Indem sie ‘Na’asse’ vor ‘weNischma’ stellten, zeigten sie, dass sie verstanden hatten, dass die Tora nicht nur eine mystische und theoretische Angelegenheit ist. Sie versprachen, die Erfüllung der Gebote der Tora zur höchsten Priorität zu machen.

Zusätzlich verpflichteten sie sich, die Lehren der Tora zu studieren und sich zu bemühen, die Tora zu verstehen. Das Studium der Tora soll das wichtigste Ziel im Leben sein. ‘WeNischma’ wird den Vorrang vor allen anderen Beschäftigungen haben. Aber selbst das ‘Nischma’ wird dem ‘Na’asse’ untergeordnet sein. Hauptzweck der Tora ist, dass wir ihre Chukim (Gebote) und Mischpatim (Rechtsvorschriften) ausführen. Jede andere intellektuelle Beschäftigung ändert nicht unbedingt das Verhalten der Person, ihr Studium verbessert nicht den Charakter einer Person und macht sie nicht zu einem besseren Menschen. Nur das Studium der Tora hat diese positive Wirkung auf den Menschen. Als wir ‘Na’asse weNischma’ erklärten, meinten wir, dass wir bereit sind, Menschen zu sein, die von Tora und Keduscha erfüllt sind.

Deshalb waren unsere Vorfahren würdig, die Tora zu empfangen, und sie wurden mit Engeln verglichen, die G”ttes Wort mit unerschütterlicher Hingabe folgen, ohne Abweichung oder Fragen.

Zuweilen verlieren wir aus den Augen, was unsere Ziele sind. Wir sind oft so sehr mit dem Studium und der Einhaltung der Tora beschäftigt, dass wir vergessen, ihre Lehren auf unser tagtägliches Leben anzuwenden und uns der anderen Menschen um uns herum bewusst zu werden. Wir erwarten von allen, dass sie sich unseren Wünschen anpassen und genau so denken wie wir. Wir werden intolerant gegenüber allen, die auch nur ein Jota von dem abweichen, was wir für richtig halten. Wir vergessen dabei, dass es am Har (Berg) Sinai zwölf völlig unterschiedliche Schewatim (Stämme) gab. Sie alle standen am Har Sinai als Einheit, “ke’Isch echad beLew echad – wie ein Mann, mit einem Herzen”, verkündeten gemeinsam ‘Na’asse weNischma’ und empfingen die Tora.

Nur wenn das Volk G”ttes und die Menschen, die Ihm und Seinen Mizwot treu sind, ihre internen Streitigkeiten und Differenzen beiseitelegen, sind wir würdig, G”ttes Nation zu sein. Nur wenn wir als Einheit zusammenstehen, sind wir in der Lage, alles zu überwinden, das uns vom ‘Baum des Lebens’ zu vertreiben droht. Jeder legitime Weg zu Haschem, der mit unseren Traditionen und den Halachot übereinstimmt, ist zu loben und zu fördern. Wenn wir die Grösse des anderen Menschen anerkennen, bereichern wir uns gegenseitig. Wir wachsen, wenn wir uns gegenseitig respektieren und voneinander lernen.

In den Sefarim heisst es, dass die Tora 600’000 Buchstaben enthält, die der Zahl der 600’000 Jehudim in der Wüste entsprechen (Anmerkung des Herausgebers: In Wirklichkeit hat es nur knapp 305’000 Buchstaben, aber nach gewissen Meinungen, sind es gemeinsam mit den Tagin (Krönchen und Strichlein) über den Buchstaben 600’000 Zeichen. Es ist bekannt, dass Rabbi Akiwa von allen Tagin, eine Fülle von Halachot ableitete). Dies soll symbolisieren, dass es für jeden Jehudi einen Buchstaben in der Tora gibt. Die Tora ist die kollektive Verkörperung jedes einzelnen Jehudi, der sich an ihre Vorschriften und Gebote hält; jeder findet dort seinen Platz. Denn unsere Wurzeln liegen alle in der Tora, egal aus welchem Siddur wir beten.

In den 49 Tagen von Sefirat haOmer (Omer-Zählung) haben wir die 48 Stufen erklommen, mit denen die Tora erworben wird. Jeder Tag entspricht einer der 48 Voraussetzungen, um Tora zu besitzen. Wenn wir die “48 geistige und sittliche Vorzüge” anschauen, die in Pirkej Awot (6:6) aufgelistet sind, stellen wir fest, dass viele von ihnen unsere Handlungen ‘bejn Adam leChawero – zwischenmenschliche Beziehungen’ betreffen. Das liegt daran, dass es bei der Tora nicht nur um ein Studium im Elfenbeinturm geht. Während der Zeit von Sefirat HaOmer, in der wir uns auf Kabbalat haTora vorbereiten, verbessern wir sowohl unsere Middot (Eigenschaften, Charakteren) als auch unsere Taten.

Nutzen wir die verbleibende Zeit bis Schawuot, um unsere Middot und die anderen aufgezählten Voraussetzungen für Gadlut beTora (Grösse in Tora) zu vervollkommnen, damit wir uns am sechsten und siebten Siwan als würdiges Volk der Tora erweisen, das bereit ist, das grösste Geschenk, das dem Menschen je gegeben wurde, noch einmal anzunehmen.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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