Die Bedeutung von Tisch’a beAw
Rav Berel Wein zu Tisch’a beAw 5784
Nächsten Dienstag gedenken wir des Jahrestages der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem durch die Römer vor 1956 Jahren. 1956 Jahre sind eine sehr lange Zeit, sogar hinsichtlich der Zeitspanne der menschlichen Geschichte. Grosse Reiche sind in dieser Zeitperiode entstanden und haben die Welt beherrscht, sind aber ausnahmslos wieder zusammengefallen und im Abfalleimer der Geschichte gelandet. Religionen und Glaubenssysteme sind entstanden und waren während langer Zeit weitverbreitet und hatten Millionen von Anhängern. Die meisten von ihnen verloren jedoch irgendwann ihre Anziehungskraft.
Wir leben in einer nachchristlichen Zeit, in der weite Gebiete der Welt wie zum Beispiel Europa, die früher die Bastionen dieses Glaubens waren, sich von diesem Glauben glaubensmässig und praktisch abgekehrt haben. Der Gott des Säkularismus schien im letzten Jahrhundert dominierend zu sein, angeführt und unterstützt durch die Macht der atheistischen und scheinbar allmächtigen Sowjetunion. Dieser mächtige Riese hat sich auch als leer erwiesen. Obwohl es noch Menschen gibt, welche für die widerlegten Theorien des Marxismus eintreten, strafen die wirklichen Tatsachen, dass in diesen Theorien und Glaubensbekenntnissen irgendeine Wahrheit enthalten ist, Lügen.
Der Nationalismus als Ziel und Ideal scheint auch auf dem Rückgang zu sein, da Nationen und Völker damit ringen, irgendeine Art von internationaler Ordnung und wirtschaftlicher Wechselbeziehung zu erstellen. Die Welt hat sich in Bezug auf Technologie und soziale Ordnung in den vergangenen 1956 Jahren stark verändert. Aber in vieler Hinsicht hat sie sich überhaupt nicht verändert.
Die Welt kennzeichnet kaum das Verschwinden und Ableben von früheren Regierungen und sozialen Ordnungen. Sie feiert nicht Tage der Niederlage und will sich auch nicht an die wahren Ursachen dieser Niederlagen erinnern. Einer der auffallendsten Aspekte der jüdischen Tradition ist die Tatsache, dass das Judentum der negativsten Momente in der jüdischen Geschichte – mit Bräuchen, Gebeten und ihrem Verhalten – gedenkt. Es tut dies, um uns an die Wirklichkeit des Lebens und der Ereignisse zu erinnern. Es tut dies, um uns vor den Konsequenzen des Schlechten und von falschem Verhalten und falschen Grundsätzen zu warnen. Es tut dies, damit wir diejenigen Teile unserer Geschichte, die unangenehm und sogar sehr negativ sind, nicht beschönigen.
Denn wenn wir uns unserer Niederlagen nicht bewusst sind, können wir nie planen, einen Sieg und Errungenschaft zu erreichen. Das Paradebeispiel dieser Haltung der Aufrichtigkeit, wie schmerzhaft dies auch ist, kann sicherlich in den Worten der Propheten Israels gefunden werden, welche die Zerstörung des Tempels voraussahen, jedoch auch die letztendliche Wiederherstellung und den Wiederaufbau des jüdischen Volkes und jüdischen Lebens im Land Israel sahen.
Ich glaube, dass es wegen dieser Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit ist, dass die Gebete und biblischen Schriften des 9. Aws uns immer noch in solch bedeutsamer und emotioneller Art ansprechen. Wie alles andere, das jüdisch und biblisch ist, ist es nicht nur eine Aufzeichnung der Geschehnisse, die uns vor langer Zeit geschahen, sondern eine Stellungnahme zu unserer Zeit, unserer Situation und unseren Herausforderungen.
In den letzten Jahrzehnten sind sowohl innerhalb als auch ausserhalb der jüdischen religiösen Welt Diskussionen über den eigentlichen Platz, den dieser Tag der Trauer in unserem heutigen Leben einnehmen sollte, geführt worden. Der wunderbare Aufstieg und Erfolg des Staates Israel hat die jüdische Welt mit enormen Gelegenheiten, jedoch auch mit enormen geistigen und physischen Herausforderungen präsentiert. Nach 1956 Jahren der Trauer an diesem Datum ist es schwierig, sich irgendeine Änderung vorzustellen, und doch sagten uns die Propheten, dass dieser Tag ein Tag der Freude und des Jubels und nicht mehr ein Tag der Trauer werden würde.
Wir sind noch nicht so privilegiert, den Inhalt und die Atmosphäre des Tages zu verändern und umzudrehen. Zu viel ist uns und zu einem zu grossen Preis in unserem Kampf, ein separates und heiliges Volk zu bleiben, geschehen, dass diesem Tag seine traurige Atmosphäre entfernt werden könnte. Die Lektionen des Tages und der Worte der grossen Propheten müssen immer noch in uns persönlich und in unserer Gesellschaft allgemein bekräftigt werden.
Der Tag fordert von uns eine Loyalität gegenüber dem G”tt von Israel und der Tora und den Traditionen, die uns über diese lange Zeitperiode aufrechterhalten haben. Er ruft Erinnerungen hervor und fordert Aufmerksamkeit für die Probleme und Mängel, die in unserem Leben und in unserer Gesellschaft immer noch vorhanden sind. Er weist jedoch auch auf eine hoffnungsvolle Zukunft und auf Wohlbefinden, Trost und bessere Zeiten hin.
______________________________________________________________________________
Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
______________________________________________________________________________
Copyright © 2024 by Verein Lema’an Achai / Jüfo-Zentrum.
Zusätzliche Artikel und Online-Schiurim finden Sie auf: www.juefo.ch und www.juefo.com
Weiterverteilung ist erlaubt, aber bitte verweisen Sie korrekt auf die Urheber und das Copyright von Autor und Verein Lema’an Achai / Jüfo-Zentrum.
Das Jüdische Informationszentrum („Jüfo“) in Zürich erreichen Sie per E-Mail: info@juefo.com für Fragen zu diesen Artikeln und zu Ihrem Judentum.