Der Monat Siwan – 1. Teil
Aus Sefer Hatoda’a / Das Jüdische Jahr. Bearbeitet und ergänzt von S. Weinmann
Der Monat – sein Sternzeichen
Siwan ist der babylonische Name des Monats. In der Thora wird er als dritter Monat bezeichnet, da bei der Aufzählung der Monate Nissan als erster gilt.
Sein Sternzeichen – Zwillinge – ist eine Anspielung auf Mosche und Aharon, weil sie das jüdische Volk leiteten und es durch sie in diesem Monat die Thora erhalten hat. Ein weiterer Grund: Bekanntlich schliesst die Thora die schriftliche wie auch die mündliche Lehre ein; diese beiden bilden eine Einheit, in der eine ohne die andere nicht auskommen kann. Ferner ist es sehr schwer, sich die Thora ohne einen Lehrpartner (Chawruta) anzueignen. Der Erfolg liegt im gemeinsamen Lernen und Ausdiskutieren.
Siwan hat immer nur einen Tag Rosch Chodesch, da der vorangehende Monat Ijar immer 29 Tage hat. Siwan hingegen hat immer 30 Tage.
“Bachodesch Haschelischi… – im dritten Monat nach dem Auszug der Benej Jisrael aus Ägypten, an diesem Tage waren sie in der Wüste Sinai angekommen.” [Schemot 19:1]. Unsere Weisen sagen: “An diesem Tag” – das war Rosch Chodesch. Am ersten Siwan lagerten sie in der Wüste Sinai und bereiteten sich für den Empfang der Thora vor.
“Wajichan Scham Jisrael Neged Hahar – es lagerte dort Jisrael dem Berg gegenüber (ibid. 2). Das Verb ist im Singular und es wird damit angedeutet, dass sie sich verhielten “Ke’Isch echad, beLew echad” – wie ein einziger Mensch mit einem einzigen Herzen, was bei allen anderen Lagerstätten nicht der Fall war. Dort gab es Groll und Streit [Raschi]. Es gibt zwar Streitigkeiten, die, wenn sie um der Sache selbst willen ausgetragen werden, ihre Berechtigung haben. Doch wenn es darum geht, die Thora zu empfangen, muss bei ganz Israel Liebe, Brüderlichkeit, Friede und Freundschaft herrschen. Auch eine Ehe kann nur dann gelingen, wenn Liebe und Frieden vorherrschen,
und so ist die Thora “Morascha” – ein Vermächtnis. “Al tikrej ‘Morascha’ ejla ‘Me’orassa’ – lies nicht ‘Vermächtnis’ sondern ‘Angetraute’“. Mit diesem Wortspiel wollen unsere Weisen betonen, dass, wie bei Bräutigam und Braut, Liebe und Frieden herrschen müssen, auch für den Empfang der Thora eine solche Atmosphäre erforderlich ist.
“Bachodesch haschlischi – im dritten Monat”. Ein Weiser aus Galliläa erklärte dies so vor Rav Chissda: Gesegnet sei unser G-tt, der uns eine dreifache Thora gegeben hat (Tenach – Thora, Newi’im, Ketuwim). Er gab sie dem Volk, das aus drei Teilen besteht (Kohanim, Lewijim und Jisraelim). Sie wurde von dem dritten übergeben (Mosche war das dritte Kind seiner Mutter). Die Benej Jisrael mussten am dritten Tag bereit sein, (der letzte Tag der Schloschet Jemej Hahagbala – der drei “Begrenzungstage”), und es geschah im dritten Monat [Schabbat 88a].
In Diwrej Hajamim II [Chronik II, 15:9-12] steht geschrieben: “Und er (König Assa) versammelte ganz Jehuda und Binjamin und auch alle, die bei ihnen wohnten aus den Stämmen Efrajim, Menasche und Schim’on… und sie versammelten sich in Jeruschalajim im dritten Monat… und sie traten in den Bund ein um G”tt, den G”tt ihrer Väter, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele zu suchen.”
Der hier erwähnte Ausdruck “im dritten Monat” wird mit Rosch Chodesch identifiziert, denn dieser Tag ist für Frieden und Einigkeit zwischen Mensch und Mensch prädestiniert und zum Liebes- und Friedensbund zwischen Israel und seinem Vater im Himmel.
Vorschriften für den Monat Siwan
Die ersten zwölf Tage des Monats Siwan haben gegenüber den restlichen Tagen des Monats eine besondere Stellung – man könnte sogar sagen, eine gewisse Heiligkeit. Der erste Tag ist Rosch Chodesch. In den vier Tagen zwischen Rosch Chodesch und dem Festtag, der auf den 6. Siwan fällt, bereitete Mosche zusammen mit unseren Vätern den Empfang der Thora vor. Am sechsten ist Chag Haschawuot (ausserhalb von Erez Jisrael auch am siebten). Der siebte Tag
wird “Jom Tewoach” (Tag des Schlachtens) genannt – der Tag, an dem alle Feiertags-Opfer von den Wallfahrern dargebracht wurden, wenn Schawuot auf Schabbat fiel. In einem solchen Fall wurden diese Einzelopfer am siebten Siwan nachgeholt, weil diese – anders als die zeitgebundenen Gemeinschaftsopfer – am Schabbat nicht dargebracht werden dürfen. Weitere fünf Tage waren für die Darbringung der Opfer der Wallfahrer vorgesehen, die keine Zeit hatten, sie am Schawuot-Festtag selbst darzubringen. Sie konnten dies binnen sieben Tagen nachholen. Obwohl Schawuot nur einen Tag dauert – im Gegensatz zu Pessach und Sukkot, die sieben Tage dauern – gibt die Thora dennoch die Möglichkeit, die privaten Festtags-Opfer sieben Tage lang darzubringen. So sind nun die zwölf ersten Tage des Monats Siwan heiliger als die übrigen Tage.
An diesen Tagen wird weder “Tachanun” noch “Jehi Razon” nach der Thora-Vorlesung gesagt, und auch Gebete für die Toten werden nicht gesprochen. Man fastet nicht an diesen Tagen – auch nicht wenn man „Jahrzeit“ nach den Eltern hat. “Ta’anit Chalom” – Fasten nach einem bösen Traum ist erlaubt. Ebenso sollen der Bräutigam und die Braut am Tag der Hochzeit fasten. Dies alles ist Minhag Erez Jisrael (Brauch in Israel). Ausserhalb des Landes teilen sich die Bräuche. In manchen Gemeinden gilt das oben Erwähnte nur bis nach Issru Chag (Tag nach Schawuot) – dem 8. Siwan.
Tage der Begrenzung und des Sich-Absonderns
Im Jahr der Gesetzgebung fiel Rosch Chodesch Siwan auf einen Sonntag. Dies ist die Meinung von Rabbi Josse (Schabbat 86b) und diese ist für uns ausschlaggebend. So wurde also die Tora am siebten Siwan, einem Schabbat, gegeben, da nach allen Meinungen die Tora am Schabbat gegeben wurde. Die Ordnung der dazwischen liegenden Tage ist folgende:
Am ersten des Monats Siwan, an einem Sonntag kamen die Benej Jisrael von Refidim in die Wüste Sinai und lagerten dem Berg Sinai gegenüber. Kein g”ttliches Wort erreichte sie an diesem Tag, denn sie waren von der Reise noch geschwächt.
Am zweiten Siwan wandte sich Mosche auf g”ttliches Geheiss an sie und gab ihnen eine Einführung in die Tora, damit sie eine Ahnung bekommen, was G”tt von ihnen fordern wird,
wenn sie das g”ttliche Joch auf sich nehmen werden. Hierbei ging es nicht nur um das Halten der Mizwot, es ging um Grösseres. “Atem re’item ascher assiti leMizrajim – Ihr habt gesehen, was ich an Ägypten getan…” (Schemot 19,4)… “We’ata Im schamoa tischme’u… – und nun, wenn ihr auf meine Stimme höret und meinen Bund hütet…, (Schemot 19,5)… “Weatem tiheju li… – Ihr sollt mir ein Reich von Priestern, ein heiliges Volk sein.” (ibid. 6) Daraufhin antwortete das ganze Volk einmütig: “Kol ascher dibber Haschem na’asseh… – alles was G”tt gesprochen, wollen wir tun!” (ibid. 8)
Am dritten Siwan teilte Mosche dem Volk die Mizwa der Begrenzung – Hagbala – mit. Er bestimmte eine genaue Grenzlinie um den Berg herum und teilte ihnen mit, dass dieses Gebiet nicht betreten werden darf. “Kol hanogea baHar mot jumat – wer den Berg berührt, soll getötet werden.” (Schemot 19, 12)
Am vierten Siwan lehrte er die Gesetze der Heiligung und der Absonderung von ihren Frauen, sie mussten eine Reinigung ihres Körpers und ihrer Kleidung vornehmen, so wie G”tt es Mosche gesagt hatte: “Wekiddaschtam hajom uMachar – sie sollen sich heute und morgen heiligen… denn am dritten Tag wird G”tt vor den Augen des ganzen Volkes auf den Berg Sinai heruntersteigen.” (Schemot 19, 10 und 11)
Demnach hätten sie die Tora am sechsten Siwan empfangen sollen, d.h. am Freitag. Aber Mosche hatte aus eigener Initiative einen dritten Tag der Heiligung und Absonderung hinzugefügt. So sagte er “Heju nechonim lischloschet Jamim – seid nach drei Tage bereit”. (ibid. 15) So wären es drei Tage der Vorbereitung: der 4., 5. und 6. Siwan und am vierten Tag d.h. am siebten Siwan, am Schabbat, würde G”tt sich herablassen. G“tt war mit dieser Verschiebung einverstanden und stieg erst am Schabbat, dem siebten Siwan, herab. G“tt befahl eine dreitägige Hagbala (Begrenzung), daraus wurden vier Tage. Ebenfalls ordnete er eine zweitägige Heiligung an, daraus wurden drei Tage. Der Tag der Gesetzgebung, der am sechsten Siwan sein sollte, war schlussendlich am siebten Siwan. Hiernach wäre also der siebte Siwan der Tag der Gesetzgebung.
Für die späteren Generationen jedoch ist Mattan Tora – das Fest der Gesetzgebung auf den sechsten Siwan festgelegt worden, so wie G”tt es ursprünglich verordnet hatte. Darum werden
auch die “Schloschet Jemei Hagbala – die drei Tage der Begrenzung” vom dritten Siwan an in Erinnerung gebracht, so wie damals, auch die Tage der Absonderung fallen auf den vierten und fünften Siwan.
Es ist darum auch Brauch, die drei Tage vor Schawuot nicht mehr als Trauertage der Omerzeit zu betrachten. Es ist an ihnen erlaubt, sich die Haare zu schneiden und auch Hochzeiten zu feiern. Sie werden “Schloschet Jemei Hahagbala” genannt.
In unseren Schriften steht geschrieben, man soll sich an diesen drei Tagen bemühen, viel Tora zu lernen, und sich nicht mit belanglosen Dingen befassen.
Rabbi Chajim Vital schreibt: Mein Rebbe, der Ari Hakadosch, schnitt die Haare nicht von Erew Pessach bis Erew Schawuot. Der Grund ist nicht wegen «Awelut». (Pri Ez Chajim, Scha’ar Sefirat HaOmer, 7. Kapitel)
In vielen chassidischen Kreisen wird der Brauch so eingehalten, ausser bei den 3-jährigen Kindern, bei denen am LagBaOmer die «Chalake» durchgeführt wird, da der Ari Hakadosch selbst seinem dreijährigen Kinde am Lag BaOmer in Meron die Haare schnitt.
Die Berufung des jüdischen Volkes
Fünf Tage bevor das Volk Israel die Tora erhielt, war ihnen ein Abschnitt vorgelegt worden, dessen Inhalt die Grundlage und das Ziel der gesamten Lehre beschrieb. Es sind dies die Verse 3-6 im 19. Kapitel von Schemot, dem zweiten Buch Moses. Sie lehren uns nämlich, dass die Tora nicht nur ein Gesetzeskodex oder eine Zusammenstellung von Vorschriften ist. Mit dem Empfang der Tora nimmt das Volk Israel eine Verpflichtung auf sich, ein Versprechen, das einer Berufung gleichkommt. Israel übernimmt eine Aufgabe, von deren Erfüllung das Bestehen der ganzen Welt abhängt und von welcher es sich nie und nimmer lossagen kann.
Als G”tt Sein Schöpfungswerk nach sechs Tagen vollbracht hatte, stellte Er Seiner Welt eine Bedingung: Nur wenn der Mensch in Seinen Wegen, nach Seinem Willen wandelt, wird sie (die Welt) weiterhin Bestand haben, andernfalls werde sie in das ursprüngliche Tohu Wawohu – das Chaos – zurückkehren. Diese Bedingung begründete den Bund zwischen dem Schöpfer und Seiner Welt. Die ersten zehn Generationen hatten das Versprechen dieses
Bundes nicht eingehalten, und so wäre die Welt zur Zeit von Noach wieder vollkommen zerstört worden. Jedoch G”tt erbarmte sich über Seiner Hände Werk und liess Überlebende übrig und erneuerte Seinen ersten Bund mit Noach. Während der darauffolgenden sechzehn Generationen entfernte sich die Menschheit mehr und mehr von G”ttes Wegen und so drohte der Welt wieder Verwüstung. Nur einige Erwählte hielten die Tradition des Bundes aufrecht. Doch die Verdienste dieser Minderheit genügten nicht, um den Fortbestand der ganzen Welt zu sichern. Sie waren Einzelgänger und wurden von den übrigen Weltbewohnern nicht anerkannt. Die Welt lehnte sich gegen G”tt auf, brach Ihm die Treue und leugnete den Bund des Schöpfers, den Er mit Seiner Schöpfung geschlossen hatte, ab.
Der Mensch wurde als Mensch geschaffen, und nicht als G”ttheit, doch sie machten sich zum Gott. Der Mensch wurde als freier Mensch geschaffen, und nicht als Sklave, doch sie erniedrigten ihn zu lastentragenden Eseln, die von ihrer Futterkrippe abhängig sind. So erhoben sich alle – vom höchsten Herrn bis zum niedrigsten Sklaven – zu Göttern, Herren und Tyrannen über andere, die ihnen unterworfen waren. Die Unterworfenen wurden zu Sklaven und menschenunwürdigen Lasttieren für die, die über sie waren. Des Menschen Wesen ist jedoch zu Höherem bestimmt, er ist von Geist erfüllt, der ihn bis in die Himmel zu erheben vermag. Der tierische Trieb brachte ihn jedoch in den Abgrund, jegliche Menschenwürde wurde mit Füssen getreten. Bosheit, Frevel und Hässliches wurden hoch angesehen, Geist und Würde aber verachtet. So wurde G”tt, der über alles erhaben ist, und dessen Wille es ist, dass alle sich respektieren und verehren, missachtet und verkannt.
Es waren die Söhne Chams und das lasterhafte Ägypten, welche die Welt von einem Ende bis zum anderen in ihre Gewalt gebracht hatten… Was sollte nun aus dem ursprünglichen Bund, von dem die Existenz der Welt abhängt, werden? Kann denn ohne ihn die Welt überhaupt bestehen? Jeder Stein in der Mauer, jeder Baum und jedes Gras verkündet mit lauter Stimme: Das Ende der Welt naht, alles stürzt zusammen! Selbst G”ttes eigene Stimme erschallt aus allem Bestehenden und warnt den Menschen, nicht zu verkommen, und die Welt nicht ins Verderben zu stürzen, doch keiner lauscht, keiner vernimmt diese Stimmen. Sie
sagen: Nur unsere eigene Stimme, nur was aus unserem Mund schallt, ist hörenswert. Nichts Höheres existiert, nur unsere eigene Kraft waltet. “Li Jeori wa’ani Assitini – Mein ist mein Fluss und ich habe mich selbst geschaffen.” (Jecheskel 29, 3)
Und ihr, meine Söhne, die Nachkommen meiner Lieblinge, könnt ihr euch aufraffen, um das Ebenbild des wahren Menschen wieder herzustellen? Habt ihr die Kraft, den König der Welt wieder einzusetzen, damit Er sie mit Seiner Güte erfülle? Sein Wille ist es ja, das Gute in Seiner Welt walten zu lassen und sie nicht zu zerstören. Seid ihr bereit, anstelle aller Familien der Welt das “Joch” dieses Bundes, der zwischen Mir und Meiner ganzen Welt einst geschlossen wurde, auf euch zu nehmen und ihn zu bewahren? Werdet ihr euer Ohr neigen, um Meine Stimme zu vernehmen, die aus allem, was Ich geschaffen habe, ausgeht? Werdet ihr Erbarmen mit Euch selbst und mit allem haben, damit die Welt, die Ich erschaffen habe, nicht zugrundegeht? Wenn ihr bereit seid, diese Berufung als Lebensziel anzunehmen, werde Ich euch stützen und euch Kraft verleihen, werde eure Weisheit und Einsicht vermehren. damit ihr eure Aufgabe bewusst seid und den Weg, den ihr einschlägt, mit grossem Erfolg beschreiten könnt. So übergebe Ich euch Meine Lehre, dies wird eure Weisheit sein und aus ihr werdet ihr Kraft schöpfen. “Ko tomar leWejt Ja’akow wetagged liWnej Jisrael – also sprich zum Hause Ja’akows und verkünde den Kindern Israels.” (Schemot 19, 3)
Fortsetzung folgt s.G.w.
_________________________________________
Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
_______________________________________________________________________________________
Copyright © 2025 by Verein Lema’an Achai / Jüfo-Zentrum.
Zusätzliche Artikel und Online-Schiurim finden Sie auf: www.juefo.ch und www.juefo.com
Weiterverteilung ist erlaubt, aber bitte verweisen Sie korrekt auf die Urheber und das Copyright von Autor und Verein Lema’an Achai / Jüfo-Zentrum.
Das Jüdische Informationszentrum („Jüfo“) in Zürich erreichen Sie per E-Mail: info@juefo.com für Fragen zu diesen Artikeln und zu Ihrem Judentum.