Zur Jahrzeit des Chafez Chajim – am 24. Elul
Gedanken von Rav A. A. Rabinowitsch
Aus DJZ, Nr. 37, 29. Elul 5783 / 15. Sept. 2023
Ergänzungen: S. Weinmann
Am 24. Elul sind es 91 Jahre her, seit der Chafez Chajim, Rabbi Jisrael Meir Hakohen sZl., dem jüdischen Volk im Alter von 95 Jahren entrissen wurde. Die letzte Krankheit und die darauffolgende Petira des Chafez Chajim war im Jahr 1933, in welchem Adolf Hitler, jimach schemo, in Deutschland an die Macht kam und auf seinem Programm stand, das jüdische Volk ‘chas weSchalom - G-tt behüte’ auszuradieren.
Einer der Raschej Jeschiwa in Radin fragte den Chafez Chajim während seiner letzten Krankheit: Was wird nun mit uns, dem jüdischen Volk, sein? Der Chafez Chajim antwortete: Dieses Vorhaben wird ihm niemals gelingen, wie es im Passuk (Vers) bei Ja’akow Awinu steht: "… und er (Ja’akow) teilte die Leute… das Kleinvieh und die Rinder… in zwei Lager. Und er sprach: Wenn Ejsaw über das eine Lager kommt und es schlägt, so wird das übriggebliebene Lager entrinnen (Bereschit 32:7-8). Da fragte er weiter: Wenn es Hitler ‘Chas weChalila’ gelingen wird, in Europa einen grossen Churban (Zerstörung) anzurichten, wo wird dann die Rettung der anderen sein? Darauf war die Antwort: Auch dies steht im Passuk des Nawi (Prophet) Owadja: "UweHar Zion tihje Pelejta wehaja kodesch - aber auf dem Berg Zion wird Rettung (ein Entrinnen) sein und es (das jüdische Volk) wird heilig sein" (Owadja 1, 17)!
Der Poniwescher Raw, welcher sich als Talmid (Schüler) des Chafez Chajim betrachtete, liess diesen Passuk an die Aussenwand der Jeschiwat Poniwesch schreiben.
Als das Sefer Chafez Chajim über Laschon Hara (üble Nachrede) zum ersten Mal in die Hände von Rabbi Jisrael Salanter kam, soll er sich ausgedrückt haben: "Ich sehe, dass die Haschgacha Eljona (himmlische Führung) für die nächste Generation bereits eine Persönlichkeit vorbereitet hat, welche das jüdische Volk mit seinem Einfluss zu ihrem Vater im Himmel zurückbringen wird."
Eine Gruppe von Chassidim bat einmal den Sohn des Chafez Chajim, er solle ihnen ein "Moifes", (Mofet - ein Wunder) erzählen, welches sein Vater vollbracht hat. Da antwortete der Sohn: Mein Vater hat eine andere Art ‘Moifes’ vollbracht als andere Zaddikim. Andere Zaddikim geben eine Beracha (Segen) und Hakadosch Baruch Hu (der Heilige, gelobt sei Er) erfüllt ihre Worte auch gegen alle Naturgesetze, nach dem Prinzip "Zaddik goser weHakadosch Baruch Hu mekajem" (ein Zaddik entscheidet und G-tt handelt danach). Mein Vater zeigt ein anderes Moifes: Er erfüllt alles haargenau, wie Hakadosch Baruch Hu es in der Tora bestimmt hat, und dies ist das noch grössere Wunder.
Anlässlich der Jahrzeit des Chafez Chajim möchte ich einen Ausschnitt aus einer Drascha (Vortrag) wiedergeben, welche der Manchester Rosch Jeschiwa sZl. anlässlich der 50. Jahrzeit des Chafez Chajim gehalten hat und die in einem Tonband festgehalten ist.
Wenn man sich überlegt, welche Eigenschaft dem Chafez Chajim verholfen hat, eine so hohe Madrega (geistige Stufe) zu erreichen, kommt man zum Schluss, dass es zum grossen Teil seine starke Emuna (Glaube) war. Ein Passuk (Vers) in der Tora oder ein Ma’amar Chasal (Ausspruch unserer Weisen) war für ihn ein Fakt wie für uns Tag und Nacht.
Wir alle glauben an Haschgacha Eljona (himmlische Führung) und Tora min Haschamajim (dass die Tora von G-tt gegeben wurde), aber der Chafez Chajim hat damit tagtäglich gelebt und es ständig gespürt. Emuna war für ihn etwas Greifbares, nicht ein theoretischer Glaube. Der Nawi sagt: "WeZaddik beEmunato jichje", der Zaddik lebt mit seiner Emuna (Chabakuk 2:4).
Als er einmal von einem jüdischen Arzt behandelt wurde, fragte er bei dieser Gelegenheit den Arzt: Woher wissen Sie, dass morgen die Sonne wieder scheinen und die Welt beleuchten wird? Der Arzt schmunzelte und sagte, es sei doch eine bekannte Tatsache, dass die Sonne jeden Tag scheint, warum soll es morgen anders sein? Der Chafez Chajim reagiert: Dies ist absolut kein Beweis, es kann plötzlich einmal aufhören. Jedoch steht im Chumasch nach dem Mabul (Sintflut): "…weJom weLajla lo jischbatu", Tag und Nacht werden nicht aufhören (Bereschit 8:22). Somit muss die Sonne ihre Funktion als Lichtspender weiter erfüllen, denn es ist in einem Passuk der Tora festgehalten. Nur ein Passuk in der Tora war für ihn ein unumstösslicher Fakt.
Die Gemara erzählt uns im Traktat Gittin (56a-b): Kurze Zeit vor der Zerstörung des Zweiten Bejt Hamikdasch (Tempel) schmuggelte man Rabbi Jochanan ben Sakai aus der Stadt Jeruschalajim hinaus, damit er mit dem römischen Feldherrn Vespasian sprechen kann. Rabbi Jochanan begrüsste Vespasian sofort mit den Worten: ‘Friede mit dir, König’. Darauf reagierte der Feldherr: ‘Du bist todesschuldig, da du mich als König begrüsst hast und ich kein König bin’. Rabbi Jochanan erwiderte: ‘Du musst ein König sein, sonst würde nicht Jeruschalajim und das Bejt Hamikdasch in deine Hand gegeben werden, denn es steht im Passuk: "WehaLewanon beAdir jipol", das Bejt Hamikdasch wird durch die Hand eines mächtigen Königs fallen (Jeschajahu 10:34). Und wirklich, während der weiteren Unterhaltung kam ein Bote aus Rom mit der Meldung, der Kaiser sei gestorben und die zuständigen Gremien hätten Vespasian zum Nachfolger bestimmt.
Rabbi Jochanan bei Sakai hat hier mit dieser Begrüssung: ‘Friede sei mit dir, König’, sein Leben in Gefahr gebracht, denn mit einem römischen Feldherrn war nicht zu spassen. Für Rabbi Jochanan war aber ein Passuk in Tenach mit der Erklärung von Chasal ein klarer Fakt, an welchem nicht zu rütteln war.
Mit dieser Einstellung und felsenfesten Emuna hat der Chafez Chajim gelebt und sich zu einer solch gewaltigen Madrega (geistige Stufe) emporgerungen. Das Leben des Chafez Chajim selbst bedeutet für uns ein Chisuk in Emuna, führt Raw Segal aus.
Der Chafez Chajim erreichte ein Alter von 95 Jahren, obwohl er schon in jungen Jahren ein sehr schwaches Herz hatte. Er durfte sogar aus gesundheitlichen Gründen einmal ein ganzes Jahr lang nicht lernen. Diese Tatsache zeigt die Wahrheit der Pessukim in Tehillim/Psalm: "Mi ha’Isch hechafez Chajim, ohew Jamim lir’ot Tow", wer ist der Mann, der Leben will, der Tage liebt, um Gutes zu sehen? "Nezor Leschoncha meRa uSefatecha midaber Mirma", Hüte deine Zunge vor Schlechtem und deine Lippen vor falschen Reden.
Der Chafez Chajim hat diese Worte ein ganzes Leben lang erfüllt und dafür gekämpft. Deshalb wurde ihm auch ein langes ausgefülltes Leben geschenkt.
Auch wenn wir die Stufe des Chafez Chajim niemals erreichen können, haben wir doch die Möglichkeit, in seinen Fussstapfen zu gehen. Dann wird uns sein Sechut (Verdienst) beistehen, in allen Wegen des Lebens mazliach (erfolgreich) zu sein und von jeder Gesejra ra'a (schlechtes Verhängnis) verschont zu bleiben.
Am Schluss seiner Ausführungen plädierte der Rosch Jeschiwa noch dafür, in den verschiedenen Sefarim des Chafez Chajim zu lernen, welche eine unerschöpfliche Fülle von wertvollen Gedanken und Chisuk enthalten. Besonders legte er den Zuhörern ans Herz, die täglichen Halachot von den Büchern ‘Chafez Chajim’ und ‘Schmirat Halaschon’ zu lernen.
Ein Geschäftsmann aus Warschau gab einmal dem Chafez Chajim eine Liste von all seinen Sefarim (Bücher), welche er von ihm zu kaufen wünschte. Nach einem kurzen Blick auf die Liste sagte ihm der Chafez Chajim, er habe festgestellt, dass er alle seine Sefarim bestellt habe, ausser dem Sefer ‘Chafez Chajim’, welches die Vorschriften von Laschon Hara (üble Nachrede) zum Inhalt hat. Weshalb habe er dieses wichtige Werk weggelassen? "Ich hätte es gerne gekauft", war die Antwort des Mannes, "da ich aber durch meine Position mit so vielen Leuten in Kontakt komme, sei es beinahe unmöglich, alle Vorschriften von Laschon Hara einzuhalten"!
"Ich habe volles Verständnis für dieses Problem und habe es sogar Rabbi Jisrael Salanter vorgelegt", sagte der Chafez Chajim. Seine Reaktion war sofort: "Es lohne sich, dein Sefer über Laschon Hara durch zulernen, auch wenn das einzige Resultat ein Seufzer am Ende des Studiums sein wird!"
Mögen wir alle zusammen mit ganz Klall Jisrael einem guten, gesunden und glücklichen Jahr entgegengehen, einem Schnat Ge’ula WeJeschua (ein Jahr der Erlösung)!
Rabbi Jisrael (Lipkin) Salanter (1810 – 1883), war jüdischer Gelehrter, Rabbiner und Gründer der Mussarbewegung (Schulung des Charakters). Er forderte eine intensivere Verknüpfung von Halacha und Ethik in Theorie und Alltagspraxis des Judentums. Sein wichtigstes Anliegen war die sittliche Läuterung, Selbsterkenntnis und Selbstvervollkommnung Rosch Jeschiwa in Wilna und Kovno; Litauen.
Chafez Chajim: (1838-1933): Rabbi Jisrael Me’ir HaKohen von Radin. Autor grundlegender Werke zu jüdischem Recht und jüdischen Werten (Halachah, Haschkafah und Mussar), wie die Werke ‚Mischna Berura‘, ‚Chafez Chajim‘, ‚Schmirat Halaschon‘, Machaneh Israel etc. Einer der prominentesten Führer des orthodoxen Judentums vor dem 2. Weltkrieg.
Er war ein Pionier mit seinen Werken. Im Jahr 1873, im Alter von fünfunddreissig Jahren veröffentlichte er anonym sein erstes Werk, ‘Chafez Chajim’, in dem er klare religiöse Vorschriften gegen Üble Nachrede, Verleumdung und Klatsch (hebr. Laschon Hara) formuliert. Der Titel kann mit ‘der das Leben will’ übersetzt werden und stammt aus Tehilim/Psalm 34,13–14: „Wer ist der Mann, der Leben begehrt (haChafez Chajim), der sich Tage wünscht, an denen er Gutes schaut? Behüte deine Zunge vor Bösem und deine Lippen, dass sie nicht betrügen“. Der Chafez Chajim legte grossen Wert auf die Einhaltung dieser Gesetze und verfasste auch ein Morgengebet dazu. In einem zweiten Buch, ‘Schmirat haLaschon’, veröffentlichte er 1876 eine Fortsetzung mit ethisch-moralischen Erklärungen der Wichtigkeit dieser Gesetze.
Sein bekanntestes, heute weit verbreitetes und im aschkenasischen Judentum als massgeblich anerkanntes Werk ist sein sechsbändiger Kommentar zum Schulchan Aruch, Teil ‘Orach Chajim’: ‘Mischna Berura’ (deutsch ‘Klare Lehre’ 1884–1907), an dem er, unterstützt von seinem Sohn und seinen Schwiegersöhnen, rund fünfundzwanzig Jahre gearbeitet hat. Der Mischna Berura kommentiert den Teil Orach Chajim des Schulchan Aruch Satz für Satz. (Der Schulchan Aruch wurde von Rabbi Josef Karo (Zefat/Safed 1488-1575), verfasst, mit den Anmerkungen von Rabbi Mosche Isserles, (Krakau 1520-1572); bekannt mit dem Akronym ‘Rem’a’).
Rav Josef Schlomo Kahaneman, Poniwescher Raw (1886 - 1969); Poniwesch, Litauen; Benej Berak, Israel. Einer der grössten Erbauer von Tora- uns Waisen-Institutionen nach der Schoa.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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