Rav Rosenfeld zu Pirkej Awot 5785 (2. Teil)
Bearbeitet und ergänzt von S. Weinmann
Zur Person von Rav David Rosenfeld
und seinen Gedanken zu Pirkej Awot
Pirkej Awot, wörtlich übersetzt “Kapitel unserer Väter”, ist ein Abschnitt der Mischna, eines der fundamentalsten Werke der jüdischen mündlichen Überlieferung. Die Mischna wurde im Jahr 3948 – genau 1500 Jahre nach dem Empfang der Tora im Jahr 2448 – durch Rabbi Jehuda Hanassi fertig niedergeschrieben. Dies entspricht dem Jahr 188 der weltlichen Zeitrechnung, also gegen Ende des zweiten Jahrhunderts. Die Mischna bespricht Gesetze und Bräuche in allen Bereichen des Judentums, von Feiertagen, Kaschrut-Gesetzen, Tempeldienst, Heirat und Scheidung bis zum Zivilrecht. Sie enthält Meinungen von Gelehrten von insgesamt rund 540 Jahren, die dem Verfassen der Mischna vorausgingen. Der Bau des zweiten Tempels fand im Jahr 3408 statt. Schimon Hazaddik, der in den ersten 40 Jahren der Hohepriester war, wird am Anfang von Pirkej Awot bereits erwähnt. Pirkej Awot ist das einzige Traktat der Mischna, das ausschliesslich den ethischen, tugendhaften und charakterbildenden Lehren unserer Weisen gewidmet ist. Aus diesem Grund wird es in Englisch normalerweise als ‘Ethik unserer Väter’ bezeichnet.
In diesem Unterricht enthüllt Rabbi David Rosenfeld die Schönheit und Tiefe der Mischna. Er erweckt die Worte der Weisen in ihrer ursprünglichen Form zum Leben, offenbart ihre Zeitlosigkeit und Bedeutung, und bespricht die Grundlagen der jüdischen Philosophie und Psychologie in klarem und offenem Stil.
Kapitel 1, Mischna 1 (2. Teil):
Das erste Gebot: Kenne dich selbst!
Kapitel 1, Mischna 1:
Mosche empfing die Tora vom Sinai (von dem, der am Sinai ihm erschien) und überlieferte sie dem Jehoschua (Josua). Jehoschua überlieferte sie den Ältesten, die Ältesen den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den ‘’Anschej Kenesset Hagedola’’ (Männer der Grossen Versammlung). Sie (die Männer der Grossen Versammlung) sprachen drei Lehren aus: Sei behutsam beim Entscheiden, stellt viele Schüler auf und macht einen Schutzzaun um die Tora.
Letzte Woche haben wir die ersten Zeilen unserer Mischna besprochen, die die Geschichte der Übergabe der Tora von Mosche bis zur Periode der Mischna umreissen. Die Einführung scheint die Mischna (6 Sedarim der Mischna) zu bescheinigen, wie wenn sie sagen wollte, dass obwohl sie erst fast 1500 Jahre nach der Offenbarung am Sinai schriftlich niedergelegt wurde, sie so echt ist wie die Tora von Mosche selbst. Dazu warfen wir die Frage des Kommentators Rabbi Ovadia von Bartenura auf. Warum wurde solch eine Einführung zu Beginn von Pirkej Awot platziert und nicht zu Beginn des gesamten Werkes der Mischna?
Rabbi Ovadia antwortete, dass die Juden wenig Zweifel bezüglich der Echtheit des grössten Teils der Mischna hatten. Praktisch die gesamte Mischna beschreibt technische Details der Beachtung der Bräuche – wie unterlässt man es, am Schabbat zu arbeiten, ein Tier zu schächten, seine Ernte (oder Gehalt) zu ma’assern, etc. Und niemand stellte sich vor, dass solche Gesetze von verschiedenen Weisen erfunden wurden. Sie ist eindeutig ein Teil unserer mündlichen Tradition, die am Sinai überliefert wurde – und die die Mizwot (Gebote) der Tora ins Detail erläutert. Solch ein grosses und komplexes Rechtssystem kann nicht aus der Luft gegriffen sein. Als unsere Vorväter es überlieferten und betonten, dass es uns von Sinai übergeben wurde, bestand kaum ein Grund, dies zu bezweifeln. Die Weisen hätten kaum einen Nutzen davon gehabt, solch ein komplexes Rechtssystem einfach so zu ersinnen.
Pirkej Awot ist jedoch etwas ganz anderes. Es ist der einzige Traktat der Mischna, der gänzlich der Ethik und der Entwicklung des Charakters gewidmet ist. Es erteilt Ratschläge: wie man mit anderen umgehen soll, welche Eigenschaften man selbst entwickeln sollte und wie man ein bedeutungsvolles und erfülltes Leben leben sollte – was verpasst werden könnte, falls man nur die technischen Mizwot des Judentums erfüllt. Man könnte denken, dass solche “Gesetze” nichts anderes als gute Ratschläge sind, kaum anders als in den vielen Hunderten von Selbsthilfe-Büchern, die seither verfasst worden sind. Was macht die weisen Worte und Sprüche der Weisen glaubwürdiger – und ‘heiliger’ – als diejenigen von Ben Franklin oder Dale Carnegie?
Dazu beginnt unsere Mischna: “Mosche erhielt die Tora vom Sinai…” Die Botschaften, Sinnsprüche und der Rat unserer Weisen, die in Pirkej Awot zusammengefasst sind, sind das Wort G”ttes. Dies ist nicht ein guter Ratschlag von weisen alten Männern, die vor 2000 Jahren lebten. Dies ist so sehr ein Teil unserer ewigen Tora wie die meisten technischen und komplexen Gesetze. Sie sind alle ein Teil von Haschems unendlicher Tora: Pirkej Awot stammt von einer Tradition, die genau so alt ist.
Es besteht hier jedoch eine tiefere Frage. Wenn unsere Weisen Ratschläge erteilen, sprechen sie oft in einer sehr allgemeinen Sprache. Wenn wir nur einige der folgenden Mischnajot betrachten, wird uns gesagt (gekürzt): “Dient Haschem nicht um des Lohnes willen” (1.3), “erwerbe dir einen Freund” (1:6), “liebe die Arbeit” (1:10). Die Weisen bieten uns in Wirklichkeit wenig Details dazu an, wie wir ihren Rat befolgen sollen. Wir erhalten nur allgemeine Anleitungen und Standpunkte; die Details scheinen uns überlassen zu bleiben.
Wieviel sagt uns darüber hinaus die Schriftliche Lehre (Tora) eigentlich dazu, wie wir uns verhalten sollen, was für Menschen wir sein sollten? Ja, wir haben eine Reihe von interessanten Erzählungen, wie unsere Patriarchen mit ihren Nachbarn handelten oder in Zeiten der Krise reagierten. Einige dieser Vorfälle sind sehr inspirierend, andere eher nicht ganz verständlich. Darüber hinaus gibt uns die Tora nur sehr allgemeine Richtlinien; …”seid heilig, denn Ich bin heilig” (Wajikra 19:2); “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” (ibid. 19:18). …”strebe den Frieden an und verfolge ihn” (Tehillim 34:15). Diese Verse sind “empfehlend und beratend”, aber die Tora sagt uns in Wirklichkeit nicht viel über den Weg aus, wie wir dieses Ziel – durch Entwicklung unseres Charakters und den zwischenmenschlichen Beziehungen – erreichen können. Ist dies nicht mindestens auch ein Aspekt der Religion – und vielleicht noch zentraler – als die technischen Gebote? Ist das Judentum in Wirklichkeit mehr eine Religion der Form als des Geistes, des Rechts und der Rituale als eine, die ein wahrhaftes “Königtum von Priestern” (Schemot 19:6) und ein “Licht für alle Nationen” (Jeschaja 42:6) kultiviert?
Und auch dies bringt uns zum Thema zurück, mit dem wir begonnen haben. Der “Rat” unserer Weisen scheint ungezwungener und weniger authentisch zu sein, weil er nicht präzise ist. Die schriftliche Tora “scheint” uns zu sagen: “Befolgt alle Arten von strengen und detaillierten Gesetzen und Bräuchen, aber darüber hinaus sollt ihr nette Menschen sein, und wir überlassen dies euch.” Ignorierte die Tora wirklich grösstenteils das Gebiet der Entwicklung des Charakters und des persönlichen Wachstums? Sagte Haschem wirklich so wenig zu diesem Thema, dass es zum guten “Selbsthilfe-Rat” der Weisen verwiesen werden musste, aber auch dieser zu wenig präzise erscheint?
Unzählige Erklärungen auf Pirkej Awot und Mussar-Bücher (Lehren über Ethik, Moral und Sittlichkeit) wurden von den Gelehrten in allen Generationen geschrieben. Das allein zeigt bereits, dass die Lehren der Thora und unserer Weisen in dieser Beziehung nur sehr allgemein umschrieben sind.
Wir kommen nun zu einem der wahren Grundsätze des Judentums. (Über die Jahre hinweg habt ihr sicher bemerkt, dass ich viele verschiedene Dinge als “einen der grossen Grundsätze des Judentums” betrachte. Vielleicht sind Sie es auch.) Wie man sich benehmen sollte, ist wirklich nicht etwas, das die Tora uns exakt vorschreiben oder genau erklären kann. Keine zwei Menschen sind gleich. Wir alle besitzen verschiedene Persönlichkeiten, Neigungen, Schwächen, Triebe und Ambitionen. Und die Tora wird für jeden von uns anders Anwendung finden; sie vermittelt eine andere Botschaft für jeden einzelnen Juden.
Die Tora – die Schriftliche Tora – ist ein Buch von absoluten Wahrheiten. Sie macht Aussagen, die in absolutem Sinn korrekt sind. Die Einhaltung von Schabbat ist wahr und relevant für jeden Juden: dasselbe gilt für das Essen von Mazza am Pessach und das Fasten am Jom Kippur (ausser in lebensbedrohenden Situationen – die von der Tora selbst ausgeschlossen werden).
Die Entwicklung des Charakters jedoch wendet sich vom Bereich des Absoluten ab und dringt in den Bereich des Relativen ein. Wie realisiert jeder von uns sein oder ihr Potential und wird der Mensch, den er oder sie wirklich sein sollten? Wie genau “heften wir uns Haschem an” (Dewarim 10:20) und werden G”ttähnliche Personen? So etwas kann die Tora nie genau verdeutlichen. Wir sind alle anders. Keine zwei Menschen sind gleich, und wie jeder von uns am besten seine Lebensaufgabe erreicht, hängt von unseren inneren Eigenschaften ab. Ein Mensch kann jähzornig sein. Die Botschaft der Tora an ihn könnte sein, dass er seine Energie und erregbare Natur für wichtige Zwecke verwenden sollte. Ein anderer Mensch ist vielleicht ein geborener Mitläufer und einer, der es anderen immer recht machen möchte. Der Rat der Tora an ihn könnte sein, dass er sich nicht schämen sollte, wenn nötig seine eigene Überzeugung zu vertreten. Ein Mensch ist introspektiv und wird am meisten durch persönliche Gedanken und Betrachtungen wachsen. Ein anderer hat eine leichtere Natur und ist gesprächig und dient Haschem am besten, indem er anderen Wärme und Freundlichkeit entgegenbringt.
Was die Entwicklung des Charakters betrifft, gibt es nicht einen einzigen Weg – und es gibt wirklich sehr wenige eiserne Regeln, die die Tora für uns festlegen kann. In der Tat gibt es kein einziges Werk, das uns vorschreiben könnte, wie alle Arten von Personen in allen möglichen Situationen handeln sollten (und natürlich müssten wir zuerst feststellen können, welcher “Typ” wir sind, bevor wir beginnen). Das Judentum beabsichtigte nicht, eine Religion zu schaffen, in der jeder gleich ist. Haschem hat kein Interesse daran, dass wir alle demselben Standard entsprechen – dass wir alle gleich aussehen und handeln. Wenn Er das gewollt hätte, hätte Er uns nicht verschieden erschaffen. Vielmehr gab uns Haschem die Richtlinien und Prioritäten, das Wertsystem der Tora. Dies sind die absoluten Richtlinien, mit denen wir beginnen müssen. Darüber hinaus überlässt es die Tora uns. Nur wir können genau unsere Natur und Haschems spezielle Botschaft an uns ergründen.
Wenn es also zu den wirklich schwierigen Themen des Lebens kommt – wer sollte ich sein, wie sollte ich handeln, wie sollte ich mich entwickeln, wie sollte ich auf die verschiedenen Menschen reagieren, mit denen ich in Kontakt komme – schweigt die Tora. Sie kann nicht mehr als allgemeine Richtlinien geben. Sie sagt uns, was die Prioritäten der Tora sind – was im Allgemeinen gute Eigenschaften und angemessene Verhaltensmuster sind. Sie kann jedoch nicht für uns entscheiden. Wir würden uns freuen, auf irgendwelche heilige Schriften zurückgreifen zu können, die uns anleiten könnten – sodass wir nicht das Unbehagen fühlen würden, allein darüber nachdenken zu müssen, aber das Leben ist eben nicht so einfach. Wie wir in jeder gegebenen Situation handeln sollen, hängt davon ab, wer wir sind und wie wir unsere Mission im Leben ansehen. Und um uns darin anzuleiten, können die Tora und die Weisen wenig mehr als guten Rat erteilen und uns damit helfen, unsere Prioritäten im Leben zu bestimmen und uns Hinweise für eine wahre Selbstfindung zu geben. Sicherlich sollten wir Rabbiner und Berater um Rat bitten, und wir müssen sorgfältig studieren, was die Weisen bezüglich von Werten und Charaktereigenschaften sagen – und dann werden wir zweifellos Tatsachen über uns selbst entdecken, die wir leicht und zufrieden während eines ganzen Lebens nie realisiert hätten. Das Judentum kann und wird jedoch nie unser Leben und unsere Ziele exakt für uns vorschreiben. Nur wir allein können dieses grundsätzliche und wesentliche Gebot “Kenne dich selbst” erfüllen.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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