Siwan / Paraschat Nasso
Siwan / Paraschat Nasso

Das Zeitalter der Weisheit (Pirkej Awot)

Die Botschaft der ‘’Anschej Kenesset Hagedola’’ (Männer der Grossen Versammlung) bis zum Ende der Tage.

Das Zeitalter der Weisheit (Pirkej Awot)

Die Botschaft der ‘’Anschej Kenesset Hagedola’’ (Männer der Grossen Versammlung) bis zum Ende der Tage.
Foto: AI Avigail

Das Zeitalter der WeisheitKapitel 1, Mischna 1 (3. Teil):

Rav Dovid Rosenfeld zu Pirkej Awot – 3. Teil

Kapitel 1, Mischna 1:

Mosche empfing die Tora vom Sinai (von dem, der am Sinai ihm erschien) und überlieferte sie dem Jehoschua (Josua). Jehoschua überlieferte sie den Ältesten, die Ältesen den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den ‘’Anschej Kenesset Hagedola’’ (Männer der Grossen Versammlung). Sie (die Männer der Grossen Versammlung) sprachen drei Lehren aus: Sei behutsam beim Entscheiden (Urteilen), stellt viele Schüler auf und macht einen Schutzzaun um die Tora.

In den vergangenen zwei Wochen haben wir die einleitenden Texte unserer Mischna besprochen. Wie wir sahen, zeigen sie uns den historischen Hintergrund nicht nur der Mischna als Ganzes, sondern von Pirkei Awot im Besonderen – um zu betonen, dass sogar der praktische Rat unserer Weisen heilig und ein Teil unserer ewigen Tradition ist, die von Sinai entspringt. Wir kommen nun schliesslich zum eigentlichen Rat unserer Mischna, den Worten der ‘Männer der Grossen Versammlung’. (Die ‘Männer der Grossen Versammlung’ waren Israels vorrangige gesetzgebende und richterliche Körperschaft während der Anfangs-Periode des Zweiten Tempels.) Wie wir sehen werden, wurde ihr Rat bei der Einführung in unsere Mischna mit Nachhaltigkeit gegeben. Sie waren sich bewusst, dass während ihrer eigenen Lebenszeit ein Übergang stattfand – vom Zeitalter der Prophetie zum Zeitalter der Weisheit.

Wenn wir die Ära der Propheten, die in unserer Mischna erwähnt wird, etwas näher betrachten, bemerken wir, dass sie eine enorm lange und unterschiedliche Periode der Geschichte umfasst. Vieles geschah während ihrer alleinigen Gerichtsbarkeit. Die Periode begann mit Mosche Rabbejnu, der Generation von und nach Jehoschua, mit dem Ableben der Älteren, die zusammen mit Jehoschua die Nation bei der Eroberung und Aufteilung des Landes Israel anführten. Die Periode fuhr mit der Ära der Richter, des Propheten Schmuel, König Schaul, der Davidischen Dynastie, des Baus von Schlomos Tempel, der Abspaltung der nördlichen Stämme ins Königreich von Israel, des Exils (und des Verschwindens) der zehn Stämme, der Zerstörung von Schlomos Tempel, des Babylonischen Exils, der Vorherrschaft des Persischen Reichs, und schliesslich der Rückkehr von Esra und Nechemja und der wenigen, die kamen, um den Zweiten Tempel zu bauen, fort. Ja, und auch der Purim Geschichte, die auch irgendwann gegen Ende dieser Periode stattfand.

Offensichtlich verstrich während dieser ausgedehnten Zeitperiode viel politische, militärische und soziale Geschichte. Es ist kaum vorstellbar, diese gesamte Periode in eine einzige Ära zusammenzubringen. Aus jedem historischen Standpunkt ist es schwierig, sich diese gesamte Periode als eine einzige Ära vorzustellen. Und doch taten unsere Weisen – aus der Perspektive von Pirkej Awot – genau dies. Der Grund dafür ist, weil unsere Weisen die jüdische Geschichte durch eine gänzlich andere Linse betrachteten. Ungeachtet der Reiche, Kriege, Vertreibungen, Umwälzungen und Revolutionen, die um sie herum geschahen, war Israels Verbundenheit mit Haschem und Sinai sicher. Wir hatten Propheten. Israels Männer und Frauen erhielten ihre Instruktionen und Ermahnungen direkt von Haschems G”ttlichen Gesandten. Unsere sozialwirtschaftliche Situation stieg an und fiel zurück und schien oft an einem Faden zu hängen. Wir hegten jedoch keine Zweifel darüber, wer wir waren und was unsere heilige nationale Mission war. Haschem war dort, um uns zu sagen und uns zu erinnern – es uns in der Tat nicht vergessen zu lassen. Er hatte noch eine direkte Kommunikation mit Israel, und so waren wir einer Tora und Tradition verpflichtet, deren Wichtigkeit und Bedeutung alle anderen militärischen, politischen und gesellschaftlichen Erwägungen übertrafen.

Die ‘Männer der Grossen Versammlung’ realisierten, dass diese Ära in ihrer eigenen Lebenszeit zum Ende kommen würde. Die wenigen verbliebenen Propheten starben in ihrer Ära aus – und würden bis zum Ende der Tage nicht ersetzt werden. Auch in vielen anderen Bereichen würde Haschems führende Hand für Israel nicht länger wie früher offenbart sein. Im Zweiten Tempel war die Schechina nicht in gleicher Weise vorhanden wie im Ersten Tempel (siehe Talmud Traktat Joma 21b). Gleichzeitig jedoch blühte das Tora-Lernen auf und erreichte neue Höhen – wie vom Propheten Secharja vorausgesehen (4:1-6, siehe Talmud Sanhedrin 24a).

Demnach begriffen die Weisen, dass ein neues Zeitalter anbrach: das Zeitalter der Weisheit. Wir würden keine Propheten mehr haben, die uns über Haschems erhabene Pläne und Fortentwicklungen für uns aufklären würden. Wir würden Ihn selbst aufspüren müssen. Und unser einziges Mittel für eine G”ttliche Inspiration würde die Tora sein – und die Verwendung unseres eigenen gebrechlichen jedoch kreativen menschlichen Verstands für ihre unendliche Weisheit. Unsere eigene Fähigkeit, Wahrheit wahrzunehmen und die Weisheit, die uns von vergangenen Generationen übergeben wurde, zu verstehen, würde nun unser wertvollstes Gut sein. Und sie würde uns während einer endlosen Aufeinanderfolge von Exilen und Verfolgungen und während Generationen erhalten. Und so rieten die ‘Männer der Grossen Versammlung’ ihrer Generation – und allen zukünftigen Generationen – worauf sie sich jetzt konzentrieren müssten: Das reifliche und wohldurchdachte Studieren der Tora, und dies ihren eigenen Schülern zu übergeben, und das Sicherstellen ihrer Gesetze. Der Rat unserer Mischna handelt sich um diese Gedanken.

Es gibt hier jedoch noch eine tiefere Botschaft. Mein Lehrer, Rabbi Jochanan Zweig, erklärte es wie folgt: Wenn wir uns mit Haschem durch Wissen, anstatt durch Prophetie, verbinden, besteht darin eine Gefahr. Wir sind nun die Initiatoren. Unsere eigenen Köpfe und Bemühungen werden unsere neue Quelle der Inspiration. Und in solch einer Situation ist es leicht, das Gefühl zu erhalten, dass wir das Zentrum unserer eigenen Religion sind, dass wir Haschem angestrebt und gefunden haben – und wir es allein getan haben. Wenn irgendein Gesetz für mich Sinn macht, wenn ich es als korrekt und beeindruckend empfinde, werde ich es einhalten. Wenn nicht, befindet es sich ausserhalb des Bereichs meines Begriffes der Religion. Ich habe Haschem gefunden – und ich habe Ihn in meinem Ebenbild geschaffen.

Dies stellt trotz der überwältigenden Schönheit des Toralernens eine enorme Gefahr dar. Deshalb fanden die Weisen es für nötig, uns zu warnen. Unser Wissen ist nur insofern gültig, als es uns erlaubt, uns mit unserem G”tt zu verbinden. Wir können die zeitlosen Gesetze der Tora studieren und über sie nachsinnen, aber wir sind nicht ihre Schiedsrichter, und wir sind nicht das Zentrum unserer eigenen Religion. Wir sind nur die Träger der Tora – wir verstehen sie nach unserem besten Wissen und geben intakt weiter, was uns vorangegangen ist.

Die erste Lehre der Mischna ist: “Sei behutsam beim Entscheiden (Urteilen)“, urteile nicht schnell – nicht gegen andere und nicht bezüglich irgendeiner anderen Perspektive im Leben oder in der Weisheit. Nehme nicht an, dass die Religion nur in dem Ausmass gültig ist, wie du sie verstehst. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Urteil über die Weisheit zu fällen, die uns überliefert worden ist, oder dich deines Verständnisses so sicher zu sein, dass du alle, die dir widersprechen, sofort ablehnst. Wir müssen beim Festlegen irgendeines Teils oder Aspekts der Weisheit der Tora – und sicherlich beim Zurückweisen – äusserst vorsichtig sein. Zweitens fordern unsere Weisen uns auf, “stellt viele Schüler auf“. Unser eigenes Wissen ist oft begrenzt und kurzsichtig. Wir sehen die Weisheit nur von unserer Perspektive aus an. Indem wir viele Schüler unterrichten, stellen wir sicher, dass die Tora nicht auf irgendeine einzige Haltung oder Perspektive begrenzt wird. Das Tora-Wissen muss an eine möglichst weite Zuhörerschaft verbreitet werden (heute verwenden Lehrer dazu sogar die verschiedenen Medien).

Rabbi Zweig bemerkte weiter, dass das hebräische Wort, das hier für das “Erziehen” verwendet wird, “ha’amidu” ist, das wörtlich meint “zu stehen verursachen”. Lehre deinen Schülern nicht nur, was du zu sagen hast, womit du eine Kopie deiner selbst schaffst (um einen ziemlich veralteten Ausdruck zu verwenden – ich denke, manche von uns erinnern sich noch an das Kohlepapier). Bewirke, dass sie auf ihren eigenen Füssen stehen – Fragen stellen, allein denken, und ihre eigene einzigartige Beziehung zur Tora entwickeln. Dies ist das Kennzeichen der jüdischen Erziehung. Wir werden dann eine starke, nationale Beziehung zur Tora und einen reichen Genpool der Weisheit haben, von dem wir schöpfen können. Kein einziger Gelehrter, wie bedeutend er auch ist, wird behaupten können, dass er den einzigen wahren Zugang zur Tora hat. Je mehr Leute wir haben, die sich mit der Tora verbinden, und je mehr Zugänge zur Weisheit sie haben, desto breiter ist der Bereich und die Relevanz der Tora in der Nation als gesamte – und desto andauernder und bedeutsamer wird unsere Verbindung zu Sinai sein.

Als letztes ermahnen uns unsere Weisen, “macht einen Schutzzaun um die Tora“, Zäune für die Tora-Beachtung zu erstellen, um das Tora-Gesetz durch rabbinische Verfügungen zu gewährleisten. (Ein einfaches Beispiel ist “mukza”, das Verbot, zum Beispiel einen Bleistift am Schabbat anzufassen, damit man nicht dazu kommt – G-tt behüte – am Schabbat zu schreiben.) Hier sehen wir wiederum dieselbe wesentliche Botschaft. Wir mögen uns heute durch unseren eigenen Verstand mit Haschem verbinden, aber wir dürfen nicht zulassen, dass der Verstand der bestimmende Faktor dafür werden kann, wie und wann wir Haschem dienen. Wir haben alle das folgende Argument in vielen Formen und Zusammenhängen gehört: “Die Tora hat nur verboten, ein Feuer am Schabbat anzuzünden, als es bedeutete, zwei Feuersteine einander zu reiben und eine grosse Anstrengung erforderte. Heute ist es nur eine Frage, einen Schalter anzumachen und beeinträchtigt in keiner Weise die Schabbat-Ruhe, also gibt es keinen Grund, dies zu verbieten. Oder, einfacher gesagt: “Ich fühle nicht, dass das Gebot X für mich bedeutsam ist. Ich habe nichts davon. Es gibt keinen Grund für mich, meinen Lebensstil zu ändern, um irgendein veraltetes Ritual anzunehmen.”

Die Weisen warnen uns deshalb ausdrücklich: Unsere Tradition ist hochheilig und unantastbar. Wir verwenden unsere Weisheit, um unsere Tradition zu studieren und interpretieren, jedoch sie nie zu verurteilen oder zu ersetzen. Wir müssen unsere Weisheit und Kreativität im Gegenteil dazu verwenden, um die Gesetze der Tora zu gewährleisten. Wir sind nicht die Besitzer von Haschems Wort und nicht die Zentren unseres eigenen Glaubens. Der Verstand mag unserer sein, aber wir unterordnen ihn Haschems unendlicher Tora. So wird unsere eigene menschliche Weisheit, anstatt eines Mittels der Neubearbeitung und Korruption, eine weitere geheiligte Verbindung in Israels zeitloser Tradition werden.

 

Quellen und Persönlichkeiten:

Rav Jochanan Zweig

Über die vergangenen fünf Jahrzehnte hat Rav Jochanan Zweig Tausende Menschen mit seinen brillanten und gedankenanregenden Lehrveranstaltungen und Schiurim inspiriert. Sein begeisternder, analytischer Ansatz fordert jugendliche und erwachsene Schüler heraus, verleiht ihnen ein besseres Verständnis der Thora sowie eine tiefere Achtung zur selbigen. Während seines Studiums am Ner Israel Rabbinical College zwischen 1955 und 1969, erhielt Rav Zweig die rabbinische Ordination (Joreh Joreh und Jadin Jadin) von Rav Ja’akow Jitzchak Ruderman, s.A. und Rav Ja’akow Weinberg, s.A.  Rav Zweig war Rosch Jeschiwa und Rosch Kollel am Bejt HaTalmud in Jerusalem, zog 1974 nach Miami Beach (Florida) und eröffnete dort das Talmudic University of Florida / Yeshiva v’Kollel Beis Moshe Chaim, Alfred and Sadye Swire College of Judaic Studies. Was als Bejt Midrasch für zehn Studenten anfing, ist inzwischen zu einem der grössten Jeschiwot / Kollelim im Südosten der USA angewachsen. Rav Zweig ist ein begehrter Lehrer und Redner. In den vergangenen Jahren hat er als solcher an über fünfzig Städten weltweit fungiert.

 

______________________________________________________________________________

Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

___________________________________________________________________________

Copyright © 2025 by Verein Lema’an Achai / Jüfo-Zentrum.

Zusätzliche Artikel und Online-Schiurim finden Sie auf: www.juefo.ch und www.juefo.com

Weiterverteilung ist erlaubt, aber bitte verweisen Sie korrekt auf die Urheber und das Copyright von Autor und Verein Lema’an Achai / Jüfo-Zentrum.

Das Jüdische Informationszentrum („Jüfo“) in Zürich erreichen Sie per E-Mail: info@juefo.com für Fragen zu diesen Artikeln und zu Ihrem Judentum.

 

Wir benötigen Ihre Hilfe

Der Verein Lema’an Achai ist eine non-profitable Organisation. Unsere Einnahmen rekrutieren sich ausschliesslich von Sponsoren. Deshalb sind wir um jede Spende dankbar.

Weitere verwandete Artikel

Accessibility