Kislew/ Paraschat Wajeschew
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Empfinden des Verlusts (Paraschat Wajeze 5786)

Wann fühlt man den Abgang eines grossen Mannes?

Wann fühlt man den Abgang eines grossen Mannes?
Foto: AI Avigail

Empfinden des Verlusts

Rabbi Berel Wein zu Paraschat Wajeze 5786

mit Ergänzungen von S. Weinmann

Raschi zitiert die bekannte rabbinische Beobachtung, dass der Weggang eines Zaddiks (Gerechten, Frommen) aus der Gesellschaft ein irreparabler Verlust für die Gemeinschaft darstellt. Ich will Chas weSchalom (G-tt behüte) nicht wie ein Häretiker tönen, aber während vielen Jahren störte mich diese Aussage. Aus meiner persönlichen Erfahrung und Beobachtung des Lebens fand ich dies nicht immer realistisch und korrekt.

Ich habe in vielen Gemeinschaften gelebt, und wenn ein grosser Mann aus dieser Gemeinschaft starb oder an einen anderen Ort wegzog, schien das Leben in der ursprünglichen Gemeinschaft wie gewohnt weiterzugehen. Jeder vermisste sicher die Anwesenheit des bedeutenden Menschen, aber nach einigen Tagen schien sich das Leben von keinem durch dessen Abwesenheit verändert oder beeinflusst zu haben. Die bittere Wahrheit des Lebens ist "Aus den Augen, aus dem Sinn". Deshalb hatte ich immer Schwierigkeiten damit, die tiefe Bedeutung dieses Zitats von Raschi zu verstehen.

Während ich (hoffentlich in Würde) alterte, begann ich, einen Schimmer des Verständnisses für diese Worte und eine Erkenntnis für deren erhabenen Botschaft zu gewinnen. Eine gewisse Gemeinde hatte ein spezifisches Problem und kontaktierte mich aus diversen Gründen, um meine Meinung zu hören, wie man die Situation handhaben sollte. Jene Gemeinde hatte einen bekannten und klugen Mann, den ich persönlich kannte, der dort ein halbes Jahrhundert lang lebte. Während der Mann dort lebte, hatte die Gemeinde absolut keinen Grund, eine Person von draussen um Rat zu bitten. Der Rat war da.

Jetzt jedoch, da dieser Mann nicht mehr anwesend war und Probleme sich häuften, drohte dieser Zustand der Gemeinde einen unwiederherstellbaren Schaden zu verursachen, daher waren sie und ich einverstanden, dass obwohl dieser weise Mann die Probleme immer auf gerechte und friedliche Weise löste, sie sich jetzt notgedrungen an jemanden von draussen wenden mussten, um Hilfe zu erhalten. In diesem Moment fühlten sie die Abwesenheit dieses grossen Mannes. Und obwohl kein Mensch unentbehrlich ist, ist auch kein Mensch je ersetzbar.

Als Ja’akow Be’er Schewa verliess, stelle ich mir vor, dass nicht jeder seine Abwesenheit bemerkte. Jede Person in Be’er Schewa stand am nächsten Morgen auf und übte seine täglichen Tätigkeiten aus. Es ist jedoch klar, dass in den 36 Jahren von Ja’akows Abwesenheit aus dieser Gemeinde Probleme und Angelegenheiten entstanden, bei deren Lösung er ihnen hätte helfen können, wäre er anwesend gewesen. In diesen Momenten wurde die volle Erkenntnis von Ja’akows Abwesenheit offensichtlich. Wie von Raschi bezüglich der Abwesenheit eines guten und weisen Menschen bemerkt wird, wird dies für alle in solchen Momenten offensichtlich und klar.

Dies ist die Natur des Lebens, dass Grösse und Güte nicht geschätzt werden, bis sie irgendwie – in Form eines Menschen – in dieser Gesellschaft nicht mehr präsent sind. Wir sehen die Dinge im Rückblick immer klarer als in der Gegenwart. Dies ist eine wichtige Lektion, die der Betrachtung wert ist.                                                                                                                  Gut Schabbes!

 

Quellen und Persönlichkeiten:

 

Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak, Rabbi Schlomo Jizchaki oder Rabban Schel Jisrael (der Grosslehrer Jisraels), meist jedoch nur mit dem Akronym Raschi genannt (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland). Er war ein französischer Rabbiner und massgeblicher Kommentator des Tenach und Talmuds; „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“. Er ist einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters. Sein Bibelkommentar wird bis heute studiert und in den meisten jüdischen Bibelausgaben abgedruckt; sein Kommentar zum babylonischen Talmud gilt ebenfalls als einer der wichtigsten und ist allen gedruckten Ausgaben beigefügt.

Jehi Sichro Baruch – Möge sein Andenken zum Segen sein.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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