Siehe – die Realität steht vor deinen Augen!
Rabbi Berel Wein zu Paraschat Re’eh und zum Monat Elul 5785
Ergänzungen: S. Weinmann
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Sehen heisst Glauben – und nicht zufällig beginnt die dieswöchige Parascha mit dem Wort “Re’eh” – ‘Siehe’. Die Tora macht deutlich: Wahrer Glaube erwächst aus dem Sehen der Wirklichkeit und der Ereignisse des Lebens. Manche Dinge liegen so klar vor unseren Augen, dass wir durch sie die richtige Wahl treffen können – zwischen Beracha (Segen) und Fluch, zwischen Gut und Böse, zwischen ewigem Leben und blosser menschlicher Vergänglichkeit.“
Der Prophet Jeschajahu beschreibt die Nichtgläubigen und Zweifler als blinde Menschen – blind gegenüber Realität und Geschichte. Dies zeigt sich besonders in unserer Zeit: Die Ideologien des vergangenen Jahrhunderts, die Millionen in die Irre führten und verheerende Folgen auch für das jüdische Volk hatten, haben sich längst als leer und wertlos erwiesen. Es braucht eine besondere Form der Blindheit, um dennoch an ihnen festzuhalten. Schon ein oberflächlicher Blick auf die jüdische Geschichte enthüllt dagegen, dass das Überleben des jüdischen Volkes und seine Bedeutung als zivilisatorische Kraft in der Welt untrennbar mit seinem Glauben, der Tora und deren Lebensweise verbunden sind.
Wer heute die Situation Israels und der Juden in der Welt mit offenen Augen betrachtet, erkennt die erstaunliche Genauigkeit der Vorhersagen, die im Sefer Dewarim bereits vor 3300 Jahren aufgezeichnet wurden. Wer die Dinge klar und unvoreingenommen sieht, der kann für sich selbst Berachot und ewiges Leben wählen. Diese Wahl betrifft nicht nur das Volk Israel, sondern in Wahrheit die gesamte Menschheit.
Am Ende seines Lebens berichtet uns die Tora, dass Mosche das ganze Land Israel sah – und zugleich auch die Ereignisse, die dem Volk Israel dort bis ‚zum letzten Tag‘ widerfahren würden. Bemerkenswert ist, dass Haschem ihm nicht nur von der Zukunft erzählte, sondern sie ihm tatsächlich vor Augen führte. Das Sehen prägte die Realität dieser Vision für Mosches menschliche Augen. Mosche verkörpert damit das Symbol weitsichtiger Vision in der jüdischen Geschichte und gilt deshalb als der Grösste – der Vater aller Propheten.
Wenn Jirmijahu über die bevorstehende Zerstörung des Tempels in Jerusalem informiert wird, wird er nicht durch eine Erklärung von Haschem informiert. Vielmehr sagt Haschem zu ihm: “Was siehst du, Jirmejahu? (Jirmejahu 1:11)” „Weil Jirmejahu die bevorstehende Katastrophe mit eigenen Augen sieht, gewinnt seine Warnung an das Volk Israel an Schärfe und Leidenschaft.“
Sehen erfordert jedoch mehr als nur ein gutes Sehvermögen. Es beinhaltet auch ein Verständnis dessen, was gesehen wird, den Hintergrund der eigentlichen Szene. Und dies ist der Grund, warum das Studium der Tora, das Verständnis der Geschichte des jüdischen Volkes, für unsere Zeit und unsere gegenwärtigen Umstände so lebenswichtig ist. Die Tora ist in Wirklichkeit unsere Brille, um eine verzerrte Sicht und Schwachpunkte zu korrigieren. Sie verpflichtet uns, die Dinge klar und korrekt zu betrachten. Wir wären weise, diese Brille zu tragen – und so den Segen, das Gute und das Leben für uns zu wählen.
Rabbi Berel Wein zum Monat Elul
Der Beginn des Monats Elul in der kommenden Woche markiert eine Wende der Jahreszeiten: Der Sommer neigt sich seinem Ende zu, auch wenn die Hitze oft noch spürbar bleibt. Noch bedeutsamer ist jedoch, dass mit Elul der Übergang zu den grossen Jamim Towim (hohen Feiertagen) des Monats Tischri beginnt – eine Zeit der Vorbereitung, der Reflexion und der inneren Neuausrichtung.
Es ist eine Zeit, das zu Ende gehende Jahr zu bedenken – eine Zeit der Hoffnung, der Verpflichtung und der Gebete für das kommende Jahr. In Osteuropa pflegten Juden zu sagen, dass „sogar die Fische in den Flüssen zu Beginn des Monats Elul erzittern“. In unserer modernen, kultivierten Gesellschaft ist es hingegen selten, dass Menschen – geschweige denn die Fische in den Flüssen – bei irgendeiner Gelegenheit oder zu irgendeiner Zeit erzittern.Ganz gefühllos wären wir, wenn der Beginn des Monats Elul in uns nicht Erwartungen weckte –durchdrungen von einer leisen Furcht. Das vergangene Jahr war, wie die meisten Jahre, geprägt von gemischten Erfahrungen und ungleichen Erfolgen. Und doch bringt jedes Jahr seinen unerwarteten Segen, neue Möglichkeiten und Herausforderungen, mit denen wir bisher nicht konfrontiert waren.
Elul ist die ideale Zeit, die Ereignisse des vergangenen Jahres zu überdenken und den weiteren Weg zu erkennen. Das Leben unserer Tage ist so kompliziert, laut und ablenkend, dass wir uns nur selten die Ruhe gönnen, unser Verhalten und unsere Hoffnungen zu prüfen. Elul schenkt uns – wenn wir die Gelegenheit ergreifen – die Möglichkeit, seinen verborgenen Segen zu entfalten: die notwendige Einschätzung der Vergangenheit und die Erneuerung unserer Ausrichtung für die Zukunft.
Gemäss aschkenasischem Brauch wird im gesamten Monat Elul nach dem Schacharit-Gebet – in manchen Gemeinden auch nach dem Mincha-Gebet – der Schofar geblasen. Die Sefaradim hingegen beginnen bereits zu Monatsanfang am frühen Morgen mit der Rezitation der Selichot, den Bitt- und Bussgebeten. Beide Bräuche sollen uns daran erinnern, wie entscheidend die Vorbereitung in geistigen Dingen und im jüdischen Leben ist.
So wie man seinen Körper auf eine grosse körperliche Belastung vorbereiten muss – niemand kann morgens aufstehen und sich sagen: „Heute laufe ich einen Marathon“, ohne zuvor hart dafür trainiert zu haben – so verhält es sich auch in der geistigen Welt. Ein wirksames und bedeutungsvolles Gebet an den Hohen Feiertagen erfordert Übung und Vorbereitung. Es wäre ein zu grosser und gefährlicher Sprung, ohne Vorbereitung von der banalen, oft flüchtigen Alltagswelt in die erhabene geistige Sphäre der Hohen Feiertage einzutreten.
Elul gibt uns die Gelegenheit, zu üben und uns innerlich vorzubereiten. Mit seinen besonderen Bräuchen weist er uns den Weg, um den Tagen des Gerichts und der Ehrfurcht gefasst begegnen zu können. Wer diese Zeit übersieht, nimmt sich selbst die Möglichkeit, das Geschenk und den Segen der bevorstehenden Hohen Feiertage voll auszuschöpfen.
Elul ist wie ein persönlicher Trainer: Er begleitet uns dabei, uns zu stärken und auszurichten für die Herausforderungen der kommenden Tage – und des Lebens überhaupt. Deshalb sollten wir diesen Monat nie auf die leichte Schulter nehmen.
Die Zeitenwende erinnert uns auch an die Zerbrechlichkeit des Lebens. Israel ist reich an immergrünen Bäumen, und doch fallen genug Blätter, die uns mahnen, dass „der Mensch nur ein Baum des Feldes“ ist. Zugleich aber sieht uns die Tora als Teil des „Baumes des Lebens“. Wenn es uns gelingt, unser Blatt fest mit diesem Baum des ewigen Lebens verbunden zu halten, dann dürfen auch wir ewig grün bleiben.
Die jüdische Sicht auf das Leben ist, dass es in irgendeiner Form ewig ist – und dass dieser Gedanke der Ewigkeit, ebenso wie die Verantwortung gegenüber kommenden, noch ungeborenen Generationen, unser Verhalten und unseren Alltag prägen soll. Elul erinnert uns an diese Wahrheit. Er erhebt uns, rüttelt uns auf und zwingt uns, das Leben in einer langfristigen, wahren Perspektive zu betrachten.
Der Schofarton und die Selichot werden uns alle überdauern. Doch ihr Klang im Ohr und ihr Nachhall im Herzen sind eine Gewähr für die Ewigkeit und die G-ttesfurcht unserer Seele.
Im amerikanischen Westen gibt es einen Baum, die „Zitterpappel“ (Quaking Aspen), deren Blätter unablässig zittern – selbst in völliger Windstille. Ich habe diese Bäume vor kurzem gesehen und war tief bewegt. Sie erinnerten mich an Elul und seine Bedeutung. Solange die Natur noch vor dem Schöpfer erzittert, sollten auch wir es tun.
Jehi Sichro Baruch – Möge sein Andenken zum Segen sein.
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Die Bearbeitung dieser Beiträge erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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