Siwan / Paraschat Nasso
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Das Modell des Universums

Der Zweck der Schöpfung

Das Modell des Universums

Der Zweck der Schöpfung
Foto: AI Avigail

Das Modell des Universums

Rav Dovid Rosenfeld zu Pirkej Awot 5785 – 4. Teil

Kapitel 1, Mischna 2:

Schimon Hazaddik war einer der letzten der Anschej Knesset Hagedola (Männer der Grossen Versammlung). Er pflegte zu sagen: Auf drei Dingen beruht die Welt: auf ‘Tora’, auf ‘Awoda’ (G”ttesdienst) und auf ‘Gemilut Chassadim’ (Wohltätigkeit).

 

Schimon Hazaddik diente 40 Jahre zu Beginn der Zeit des Zweiten Tempels als Kohen Gadol (Hohepriester). Wie unsere Mischna bezeugt, lebte er am Ende der Periode der Männer der Grossen Versammlung. Im historischen Kontext führte er gemäss dem Talmud die jüdische Delegation an, die Alexander den Grossen bei dessen Eroberung des Heiligen Landes (Joma 69a) begrüsste. Wie wir in den kommenden Wochen sehen werden, findet nach seinem Ableben ein weiterer Übergang in der jüdischen religiösen Geschichte statt – von der Periode der ‘Männer der Grossen Versammlung’ zur Periode der “Paare (neue Amtseinrichtung, zwei Gelehrte als geistige Führer der Nation)”.

Diese Mischna bespricht eine der vielleicht fundamentalsten Fragen des Judentums – und eigentlich des Lebens: Was ist der Zweck der Welt? Worauf basiert die Welt – das heisst, welche zugrundeliegenden Ziele hatte Haschem bei der Schöpfung der Welt? Schuf Haschem die Welt, damit sie mit eigenem Schwung funktionieren sollte, indem Er ihre Zügel und ihr Schicksal der Menschheit übergeben würde? Oder hatte Haschem Seine eigene Agenda in der Schöpfung, und die Welt existiert – und existiert weiterhin – nur insofern, als sie Haschems G”ttlichen Plan fördert? Und was ist genau dieser G”ttliche Plan? Warum genau schuf Haschem die Welt, und was müssen wir deswegen tun?

Natürlich sind dies nicht die Art von Fragen, die wir in einem einzigen Artikel oder in irgendeinem begrenzten Raum beantworten können. Haschems Meisterplan ist nicht etwas, das mit logischer und klarer Analyse erklärt werden kann, und er kann wahrscheinlich von Menschenwesen auch nicht gänzlich verstanden werden. Schimon Hazaddik deutet jedoch in einem kurzen Satz auf einige wahrlich tiefe Gedanken hin, die uns in die richtige Richtung weisen werden. Wir werden versuchen, in den kommenden Zeilen einen Einblick in seine Worte zu gewinnen.

(Viele der untenstehenden Gedanken basieren auf Rabbi Mosche Chajim Luzzattos Werk “Derech Haschem (Der Weg G”ttes)”. Ich werde versuchen, eine Anzahl verschiedener Begriffe im jüdischen Denken kurz zusammenzufassen. Im Interesse der Kürze (nicht meine Spezialität) müssen wir dies im Moment ziemlich oberflächlich halten. In späteren Lektionen werden wir – so G”tt will – einige dieser Themen ausführlicher behandeln.

Jüdische Denker fassen Haschems Schöpfung der Welt wie folgt zusammen: Sie war die äusserste Handlung der Güte. Haschem ist perfekt und unbegrenzt. Er hatte kein Bedürfnis für ein Weltall. Er gewann nichts davon, dass Er die Menschheit zeugte. Somit können wir die Schöpfung nur als eine offenbare Tat des Altruismus (Uneigennützigkeit) betrachten – um des Menschen willen.

Ferner, wenn Haschem in der Tat perfekt ist, müssen Seine Handlungen als Handlungen der perfekten Güte betrachtet werden. Haschem schuf den Menschen, um Geschöpfe zu haben, denen Er Güte erweisen kann. Die Schöpfung war deshalb die äusserste selbstlose Handlung: ein G”tt, Der nichts benötigt, schuf eine Welt, um dem Menschen alles zu geben.

Lasst uns daher eine offensichtliche Frage stellen: Falls Haschem dem Menschen Gutes erweisen wollte, warum stellte Er uns nicht sofort in jenen Platz der Himmlischen Belohnung, die Kommende Welt? Gib uns Gutes! Warum stellte Er uns in eine Welt, die so viel Bitteres und Versuchungen enthält – und versprach uns nur eine Belohnung, falls wir auf verschiedene “vergnüglichen Sachen” verzichten und stattdessen Seine Tora studieren und Seine Gebote befolgen? Warum dieses ‘umständliche Gute’? Warum scheint Haschem uns das ‘absolut Gute’ auf eine schwere Art zu geben?

Die Antwort dazu ist ein Begriff, den wir alle zutiefst würdigen können, in den wir jedoch hineinwachsen müssen. Es ist, was der Sohar Hakadosch und die Kabbalisten das “Brot der Scham” (“Nahama diKessufa”) nennen. Falls Haschem uns für unser Nichtstun ‘belohnen’ würde, wäre es keine Belohnung; es wäre eine Beschämung. Almosen zu erhalten – und zusätzlich noch dauernd – ist ein beschämender und demütigender Zustand. Etwas zu erhalten, das wir überhaupt nicht verdienen, gibt uns ungeheures ungutes Gefühl. Wir fühlen uns zerrüttet und schämen uns, uns in der Öffentlichkeit zu zeigen. Versuchen Sie einmal, einem Menschen ins Gesicht zu schauen, dem Sie einen enormen Gefallen getan oder ihm sogar dauernd geholfen haben. Sie würden ihn lieber nie mehr sehen. Falls Haschem uns geben würde, was wir nicht verdient haben, würden wir uns Ihm kaum “nahe” fühlen. Wir würden nie eine bedeutende Beziehung zu Haschem in der Kommenden Welt haben – was in Wirklichkeit das ist, worum es sich in der Kommenden Welt handelt.

Anstatt uns also eine Gratisbelohnung zu geben, gibt Haschem jedem von uns die Gelegenheit, diese rechtmässig zu verdienen. Und diese Welt ist der Platz, wo wir es tun. Wir erhalten Gebote – was zu tun und was nicht zu tun, um eine Beziehung zu unserem Schöpfer zu schmieden. Gleichzeitig ist die Welt voller Versuchungen, die bestrebt ist, uns von unserer G”ttlichen Berufung wegzulocken. Wir müssen mit unserem eigenen Willen und unseren eigenen Kräften, mit unseren menschlichen Leidenschaften und allen möglichen Versuchungen fertigwerden, mit denen wir unser geistiges Ziel verscherzen könnten.

Die ganze physische Welt befindet sich in einem Zustand des Gleichgewichts. Der Mensch schwebt zwischen der Wahl von Gut und Böse – ständig, während seines ganzen Lebens. Wenn er das Gute wählt, heiligt er sich und verdient wahrlich die endgültige Belohnung, die ihn erwartet. Wenn er das Schlechte wählt, schadet er seiner eigenen Geistigkeit und distanziert sich von Haschem und dem letztendlichen Ziel der Schöpfung. Haschem musste jedoch die Möglichkeit von Sünde und Bösem in dieser Welt ermöglichen – trotz der mit ihr eingehenden Möglichkeit der Zerstörung. Ohne dies, wäre die Wahl des Guten nichts Bedeutendes – und würde keine Belohnung verdienen.

Wir haben bis anhin den Begriff in unserer Mischna des “Dienstes” erklärt. Haschem schuf den Menschen, damit er Ihm dienen kann. Der Dienst (Awoda) wird oft dazu verwendet, um sich spezifischer auf den Tempeldienst oder das Gebet zu beziehen, aber allgemein bedeutet es den Dienst an G”tt in all seinen Formen.

Als nächstes kommen wir zu dem Begriff der ‘Gemeinschaft oder Gesellschaft’. Haschem hat nicht nur viele Milliarden von einzelnen Menschen geschaffen und jedem von ihnen befohlen, Ihm in einem Vakuum zu dienen. Er hat nicht 8 Milliarden kleine Labyrinthe geschaffen und jedem Menschenwesen ein Stück des Käses versprochen, wenn er am Ende anlangt. Haschem hat eine gesamte Welt geschaffen, in der Personen miteinander verbunden sind – in Familien, Gemeinden, Nationen und Gesellschaften – die auf irgendeine Weise miteinander auskommen müssen.

Auch dies ist ein Teil der kosmischen Mission des Menschen. Die Geistigkeit liegt nicht nur in der Beziehung des Menschen mit G-tt. Sie liegt auch in seinem Verhalten gegenüber anderen Menschen. Indem wir uns um einen anderen Menschen kümmern, indem wir bedeutsame Beziehungen und harmonische Gesellschaften aufbauen, dienen wir Haschem durch unsere Beziehungen mit der Welt. Zudem schaffen wir eine gesamte Welt des Friedens und der Harmonie und machen sie zu einer Widerspiegelung des ‘G”ttes der Wahrheit und des Friedens’, Der sie schuf. Indem wir Haschem dienen, verbessern wir deshalb nicht nur uns selbst, sondern die gesamte Welt, die von Haschem unvollendet belassen wurde, damit der Mensch sie vervollkommnet.

Indem wir also zwischenmenschliche Beziehungen pflegen, verdienen wir eine Belohnung auf einer gänzlich anderen Ebene – nicht nur wegen unseren persönlichen Errungenschaften, sondern weil wir unsere kosmische Mission für die Welt und G”tt erfüllt haben. Und durch dies hält der Mensch die zweite Säule der Welt aufrecht: die Wohltätigkeit.

Ein weiteres Konzept wird diesen Gedanken abschliessen. Was ist die letztendliche Belohnung, die Haschem dem Menschen in der Kommenden Welt verleihen wird? Es ist das äusserst mögliche Gute. Was ist das äusserst Gute? Haschem Selbst. Die Kommende Welt wird uns das unendliche Vergnügen erlauben, das unsere Seelen aufrichtig begehren (ob wir es unter so vielen körperlichen Einschränkungen realisieren oder nicht): “Kirwat Elokim – Nähe zum Allmächtigen”. Die Befolgung der Mizwot (Gebote) verdient uns nicht eine “Belohnung”, die wir einfach nach 120 Jahren “einkassieren” können. Sie heiligt unsere Seelen, macht uns mehr “G”ttähnlich” und fähig, eine Beziehung zum G”ttlichen zu geniessen. Die Mizwot bringen uns zu einer Nähe zu Haschem hier und ganz speziell in der Kommenden Welt.

Dieses Ziel kann am besten durch das Tora-Lernen erreicht werden. Es ist das Gebot, das es uns mehr als irgendein anderes erlaubt, unsere Nähe zu Haschem zu fühlen. Wir verstehen Haschems Weisheit und Werte, und wir beginnen, diese Beziehung zu Ihm gerade hier und jetzt aufzubauen. Letztendlich ist dies der Zweck aller Gebote. Das Tora-Lernen jedoch erlaubt uns dieses Gefühl auch in dieser Welt.

Dies ist also das wahre Ziel der Welt: Erstens, dass wir Haschem dienen und dadurch eine Belohnung verdienen; zweitens, dass wir Haschems Schöpfung in ihrer Ganzheit durch gute Taten vervollkommnen; und drittens, dass wir uns – ganz speziell – durch das Tora-Lernen in ein Volk entwickeln, das eines Tages das maximale Vergnügen der Nähe zu Haschem in der Kommenden Welt geniessen wird.

Es ist sowohl erstaunlich als auch beängstigend, dass so viel von unseren Tagen und von unserem Leben hindurchgehen, ohne solche Dinge zu beachten. Wir werden jedoch gewiss nach einigen Beiträgen beginnen das Modell von Haschems Welt zu erkennen. Wir werden – so G”tt will – über die Jahre des Lernens hinweg viel mehr entdecken, aber das grundsätzliche Modell tritt schon von Anfang an zutage. Und im Laufe der Zeit werden wir immer mehr realisieren, dass das Judentum im Grund eine Religion der Logik, der Bedeutung und des Verständnisses ist.

 

Quellen und Persönlichkeiten:

 

  • Sohar (Hakadosch): Jüdische Mystiklehre (Kabbala), gelehrt von Rabbi Schim’on bar Jochai (ca. 67-160).
  • Rabbi Mosche Chajim Luzzatto [der “RaMCHaL“] (1707 – 1747): Rabbiner, Gelehrter und Kabbalist, Verfasser von vielen Werken, wie “Derech Haschem” (“Der Weg G-ttes”) und das Buch “Mesilat Jescharim” (“Weg der Rechtschaffenen”), etc.; Padua, Amsterdam, Israel.

 

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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