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Rav David Rosenfeld zu Pirkej Awot – 1. Teil

Rav David Rosenfeld zu Pirkej Awot – 1. Teil

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Rav David Rosenfeld zu Pirkej Awot (Sprüche der Väter) - 1. Teil

Bearbeitet und ergänzt von S. Weinmann

Kommenden Schabbat beginnt das jüdische Volk mit dem Lernen der Pirkej Awot

Einleitung zur Mischna und zu Pirkej Awot:

Wer gab den Weisen das Recht…

Kapitel 1, Mischna 1:

Mosche empfing die Tora vom Sinai (von dem, der am Sinai ihm erschien) und überlieferte sie dem Jehoschua. Jehoschua überlieferte sie den Ältesten, die Ältesen den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den ‘’Anschej Kenesset Hagedola’’ (Männer der Grossen Versammlung). Sie (die Männer der Grossen Versammlung) sprachen drei Lehren aus: Sei behutsam beim Entscheiden, stellt viele Schüler auf und macht einen Schutzzaun um die Tora.

Seid alle willkommen!

Dies ist die erste Mischna von Pirkej Awot, den grossen ethischen Werten der Weisen der Mischna. Zuerst werden wir ein wenig den Hintergrund von Pirkej Awot und der Mischna im Allgemeinen besprechen, und dann werden wir den vorliegenden Text betrachten.

Die Mischna ist eine frühzeitige rabbinische Abfassung, die das gesamte jüdische Gesetz zusammenfasst. Sie wurde im späten zweiten Jahrhundert in ihre gegenwärtige Form gebracht. Sie ist eine Zusammenstellung der Lehren der grössten Gelehrten der fünf Jahrhunderten vor jener Zeit – von anfangs der Periode des Zweiten Tempels bis ungefähr 120 (150) Jahre nach dessen Zerstörung. Sie wurde im Land Israel verfasst. Kurz nach ihrer Vervollständigung erfuhr die jüdische Besiedlung im Land einen langsamen, jedoch anhaltenden Rückgang infolge von Unbeständigkeit und Verfolgung. (Das Zentrum des jüdischen Lebens verlagerte sich dann nach Babylonien, wo rund dreihundert Jahre später der Talmud verfasst wurde.)

Die Mischna ist aufgeteilt in sechs Hauptbände, und jeder von ihnen in kleinere Abschnitte (oder Traktate). Diese Abschnitte befassen sich mit praktisch allen Gebieten des jüdischen Rechts, wie Feiertage, Tempeldienst, Zivilrecht, Heirat und Scheidung, und Gesetze der Landwirtschaft. Pirkej Awot ist der einzige Traktat der Mischna, der sich gänzlich der Ethik widmet.

Pirkej Awot beginnt mit der Schilderung der Übergabe der Tora in einer Umriss-Form, von Mosche bis zu den Männern der Grossen Versammlung (mehr über sie später) und dem Beginn der Periode der Mischna. Unsere Mischna endet mit dem Rat der Männer der Grossen Versammlung. Der grösste Teil des ersten Kapitels von Pirkej Awot stellt uns die grossen Gelehrten der frühen Generationen der Mischna, wie auch die grundlegenden Botschaften, die sie ihrer und zukünftigen Generationen vermittelten, vor.

Der historische Umriss, den unsere Mischna liefert, ist äusserst dürftig und beabsichtigt eindeutig nicht, uns irgendwelche ernste historische Hinweise zu liefern. Vielmehr war es sein Ziel, die Mischna zu bescheinigen und aufzuzeigen, dass ihre Lehren sich in einer ungebrochenen Tradition - seit Sinai selbst - erstrecken.

Wir wollen zuerst kurz die erwähnten Epochen identifizieren. Jehoschua war der Nachfolger von Mosche. Er und die Älteren seiner Zeit führten die Nation ins Land Israel und beaufsichtigten die Eroberung und Aufteilung des Landes unter den zwölf Stämmen Israels.

Nach dem Ableben der Älteren und Richter begann die Periode der Propheten, den geistigen Führern der Nation bis zur Zeit der Mischna-Gelehrten. Der Auszug aus Ägypten und Kabalat Hatora fanden im Jahr 2448 statt. Haschems Hand wurde nicht offen jedem Mitglied Israels offenbart, wie es während dem Auszug und der übernatürlichen Eroberung des Landes der Fall war. Trotzdem kommunizierte Haschem immer noch offen mit den grossen Männern und Frauen Israel durch Prophetie und G"ttlicher Inspiration. Die geistigen und oft auch politischen Führer Israels waren Persönlichkeiten, deren Autorität direkt auf dem Wort von Haschem ruhte. Der Talmud im Traktat Megila (14a) sagt, dass das jüdische Volk 1,2 Millionen! Propheten hervorgebracht hat, jedoch wurden nur die Prophetien, die auch für die späteren Generationen Gültigkeit haben, niedergeschrieben!

Eintausend Jahre dauerte die Prophetie, vom Empfang der Tora am Sinai – im Jahr 2448 - bis zu den letzten Propheten und Schimon Hazaddik, der Letzte der ‘Männer der Grossen Versammlung’, die im Jahr 3448 starben.

Als die letzten Propheten zu Beginn der Ära des Zweiten Tempels, im Jahr 3408, noch lebten, begann die Periode ‘der Grossen Versammlung’. Diese ‘Grosse Versammlung’ war eine religiöse und vorwiegend gerichtliche Körperschaft, die sich aus 120 der grössten Gelehrten und den letzten Propheten Israels zusammensetzte. Diese dauerte 40 Jahre, bis die letzten Propheten Chagai, Secharja, Malachi und auch Schimon Hazaddik starben. Schimon Hazaddik war der Letzte der ‘Männer der Grossen Versammlung’ und auch der erste Tana (Mischna-Gelehrte). Deshalb wird er in Pirkej Awot als erster der Tana’im erwähnt.

Anschliessend wurde das jüdische Volk von Antignos ‘’ein Mann aus Socho’’, vorzüglichster Schüler von Schimon Hazzadik, geführt und geleitet. Bis dahin gab es keine Meinungsverschiedenheiten zwischen den Weisen. Nach Antignos wurde Jisrael jeweils von zwei Tora-Persönlichkeiten geleitet. Der erste war der Nassi, normalerweise als 'Fürst' übersetzt, und der zweite war der Aw Bejt Din, der Gerichtsvorsitzende. Während dieses Kapitels werden die Führungspaare vieler Generationen erwähnt werden.

Beim nächsten Mal werden wir s.G.w. die Bedeutung des Übergangs von den Propheten zu den Männern ‘der Grossen Versammlung’ und danach zu den Mischna-Gelehrten besprechen. Diese ‘Grosse Versammlung’ war eine religiöse und vorwiegend gerichtliche Institution; auch werden die Bedeutung der Perioden, die hier insgesamt erwähnt wurden, erörtern. Wie wir sehen werden, anerkannten die Männer der Grossen Versammlung die Bedeutung dieses Übergangs und berieten die Nation in unserer Mischna dementsprechend. Diese Woche möchten wir jedoch eine grundsätzlichere Angelegenheit besprechen: Warum findet diese Einführung zu Beginn von Pirkej Awot statt, anstatt zu Beginn der gesamten Mischna?

Diese Frage wird von Rabbi Owadia von Bartenura in seinem Kommentar zur Mischna gestellt. Die Eröffnungs-Erklärung unserer Mischna scheint eine historische Einführung in die Mischna im Allgemeinen zu sein. (Anmerkung: Wenn ich 'Mischna' schreibe, meine ich das gesamte Werk von sechs Bänden, von denen der Traktat Pirkej Awot nur ein ganz kleiner Teil ist.)

Der Zweck dieser Einführung ist vermutlich das Ziel, die Echtheit der Mischna zu verifizieren. Obwohl sie erst rund 1500 Jahre nach der Offenbarung am Berg Sinai verfasst wurde – und ein grosser Teil ihres Inhalts bis zu jener Zeit nur mündlich erhalten wurde – folgte sie einer klaren und ununterbrochenen Überlieferung. Sie ist so authentisch wie die Tora von Mosche selbst. Es gibt jedoch eine offensichtliche Schwierigkeit damit. Die Mischna ist ein Werk von sechs Bänden. Pirkej Awot erscheint gegen das Ende des vierten Bandes. Warum kommt diese Einführung zu Beginn von Pirkej Awot anstatt zu Beginn der gesamten Mischna?

Rabbi Owadia erklärt, dass die Weisen es für wichtiger hielten, diese Einleitung hier als zu Beginn der Mischna zu platzieren. Praktisch alle anderen Abschnitte der Mischna besprechen das jüdische Recht und die jüdischen Bräuche. Sie sind logisch und genau – wie hält man Schabbat, schächtet ein Tier, fasst einen Heiratsvertrag ab, bringt ein Sühneopfer. Grösstenteils bespricht die Mischna die Regeln des Judentums: Was sind die vielen Details und feinen Punkte des jüdischen Gesetzes, wann sind sie anwendbar oder nicht, für wen sind sie bindend, und was geschieht, wenn alle möglichen Schwierigkeiten während ihrer Ausführung entstehen.

Die Juden hatten eigentlich nie viele Zweifel bezüglich des Ursprungs solcher Gesetze. Diese waren Bräuche und Traditionen, die jedes jüdische Kind im Haus seiner Eltern beobachtete. Eine gesamte Nation, die sich oft über Ozeane und Kontinente erstreckte, beachtete praktisch dasselbe Gesetz – und hatte dies während den vielen Jahrhunderten ihrer gut dokumentierten Geschichte getan. Es gab sehr wenig Zweifel für den gläubigen Juden bezüglich der Ursprünge solcher Gesetze: sie waren nicht selbst auferlegt.

Zudem bezeugte das Judentum ein Verständnis von G"tt und der Menschenkenntnis, die kaum von Menschen inspiriert hätte sein können. Israel praktizierte eine gerechte, barmherzige und rationale Religion, die irgendwelchen der oft grausamen Praktiken, die die Heiden ihrer Zeit ausgeheckt hatten, weit überlegen war. Ihre Überzeugungen und Bräuche waren gerecht und moralisch jenseits des Verständnisses von primitiven Menschen. Die späteren anderen grossen Religionen der Welt ahmten die fundamentalen Gebote des Judentums nur nach und nahmen sie an; Menschen allein hätten nie irgendetwas auch nur entfernt Ähnliches erfinden können. (Die einzige mögliche Ausnahme sind die Religionen des Fernen Ostens – da manche der Meinung sind, dass sie von den Nachkommen von Awrahams Nebenfrau stammen, die von Awraham in den Osten gesandt wurde (Bereschit 25:6)). Die Juden hatten also keine Zweifel bezüglich des G"ttlichen Ursprungs ihrer Tora. Von wo sonst hätte solche Weisheit und Schönheit entstehen können?

Dies jedoch war der Fall mit dem klaren jüdischen Gesetz. Gesetze sind bestimmt und standhaft. Sie besitzen eine Exaktheit, die eindeutig von irgendwoher entstammte. Was ist jedoch mit den moralischen Anweisungen der Weisen? Wenn Schamai uns sagt, dass wir jeden Mensch freundlich begrüssen sollen (1:15), ist dies wirklich ein Gesetz? Vielleicht ist es einfach ein guter Rat. Nehmen wir zum Beispiel an, dass wir am Morgen mit einer schlechten Laune aufwachten und keine Lust haben, der Familie oder dem Angestellten im Café, der uns unseren Kaffee oder eine Zeitung reicht, mit einem fröhlichen "Guten Morgen" zu begrüssen. Sind wir wirklich verpflichtet, es doch zu tun? Kommt solch ein Gesetz von Sinai?

Darauf antworten unsere Weisen: "Mosche erhielt die Tora von Sinai…" Die Gesetze, die wir lernen, entstanden am Sinai – genauso wie es "39 verbotene Melachot (Arbeiten) am Schabbat" gibt (Mischna Schabbat 7:2). Die Weisen sprechen hier mit derselben Autorität, mit der sie während der gesamten Mischna sprechen. Ihre Aussagen mögen vielleicht wie ein guter alter Ratschlag erscheinen – wie wir ihn auch in irgendeinem Dale Cargie-ähnlichen Selbsthilfe-Buch finden können. Wir sollten jedoch nicht auch nur einen Moment denken, dass die Weisen der Mischna nicht länger die Überbringer einer heiligen Tradition sind. Wie wir über die Jahre hinweg sehen werden, wenn wir die Worte eingehend studieren, bieten sie nicht nur Sinnsprüche oder weise, prägnante Ratschläge an. Sie sprechen nichts weniger als das Wort G"ttes.

Es gibt noch einen tieferen Aspekt dieser Einführung. Der "gute Rat" der Weisen ist kaum so präzise wie ein grosser Teil dessen, mit dem die Mischna sich beschäftigt. Pirkej Awot drückt sich manchmal mit sinngemässen und verhältnismässigen Erklärungen der Moral und des angemessenen Verhaltens aus – und deshalb lässt es sich als weniger authentisch erscheinen als echtes Fleisch und echte Kartoffeln des Judentums. Wir werden dies s.G.w. beim nächsten Mal besprechen.

Quellen und Persönlichkeiten:

Rabbi Ovadja ben Awraham von Bertinoro (geb. ca. 1465 in Bertinoro (Italien) – gest.  ca. 1515 in Jerusalem). Er ist allgemein als "Der Bartenura" bekannt, Er war ein italienischer Rabbiner und Gelehrter, der am besten von seinem beliebten Bartenura-Kommentar zur Mischna bekannt ist. Seit seinem Erscheinen (Venedig, 1549) wurde kaum eine Ausgabe der Mischna ohne sie gedruckt. Der Kommentar basiert hauptsächlich auf Erklärungen von Raschi und des Rambam (Maimonides). Er war ein Schüler von Rabbi Josef Colon Trabotto (bekannt als Maharik).

Der Wunsch, das Heilige Land zu besuchen, führte ihn nach Jerusalem, und er kam dort am 25. März 1488 an. Rabbi Ovadias Persönlichkeit, Beredsamkeit und der grosse Ruf als Gelehrter       führten dazu, dass er sofort nach seiner Ankunft als spirituelles Oberhaupt der Gemeinschaft           akzeptiert wurde. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 liessen sich viele der Exilanten in Jerusalem nieder, und Rabbi Ovadia wurde ihr intellektueller Führer.

In den Jahren, in denen der Bartenura die Interessen der jüdischen Gemeinde in Jerusalem           kontrollierte, entwickelte sich eine radikale Veränderung zum Besseren. Kurz nach seiner Ankunft war er tatsächlich einmal gezwungen, ein Grab selbst zu graben, weil in der Gemeinde niemand diese Arbeit leisten wollte. Jedoch einige Jahre später genoss die Gemeinde die Vorteile von Krankenhäusern, gemeinnützigen Hilfsgesellschaften und ähnlichen Vereinigungen. Sein Ruf verbreitete sich weit; er wurde nicht nur als rabbinische Autorität akzeptiert, sondern die muslimische Bevölkerung bat ihn häufig, gerichtliche Fälle zu entscheiden.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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