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Zwei Denkweisen: Teorie der Relativität und das Gesetz von Ursache und Wirkung (Paraschat Mikez 5785)

Die zweijährige Verlängerung der Gefängnisstrafe - warum?

Die zweijährige Verlängerung der Gefängnisstrafe - warum?
Foto: AI Avigail

Rav Frand zu Paraschat Mikez 5785

Ergänzungen: S. Weinmann

1. Denkweise: Die zweijährige Verlängerung der Gefängnisstrafe: Theorie der Relativität

Unsere Parascha beginnt mit den Worten "Es war am Ende von zwei Jahren, und Pharao träumte: Er stand beim Fluss (Nil)" (Bereschit 41:1). Die naheliegende Frage ist: Von welchen zwei Jahren ist hier die Rede? Am Ende der letztwöchigen Parascha zitiert Raschi einen Midrasch, der uns sagt, von welchen zwei Jahren hier die Rede ist.

Raschi sagt, dass nachdem Josef sein Vertrauen in den Mundschenk setzte, indem er ihn bat, für ihn ein gutes Wort bei Pharao einzulegen, er bestraft wurde. Wegen den zwei Worten, die er sagte, (Bereschit 40:14) "usechartani… wehiskartani… (und gedenke meiner…  und erwähne meiner vor Pharao…), wurde Josefs Verbleiben im Gefängnis um weitere zwei Jahre verlängert.

Raschi weist auf einen sehr rätselhaften Midrasch Rabba (89:2) zu Beginn der dieswöchigen Parascha hin. Der Midrasch sagt, in Tehillim/Psalm (40:5) steht: "Heil dem Mann, der auf den Ewigen sein Vertrauen setzt" – dies bezieht sich auf Josef – "…und sich nicht an "Rahaw-Hochmütige" wendet…" dies bezieht sich auf Josef, der auf Ägypter, die "Rahaw/Hochmütige genannt werden, vertraut hat – und deswegen seine Gefängnisstrafe (wegen den zwei Worten, die er zum Mundschenk sprach), um zwei Jahre verlängert wurde.

Dieser Midrasch enthält einen Widerspruch in sich. Zuerst hebt er Josef als Musterbeispiel eines Menschen hervor, der sein Vertrauen in Haschem setzt. Dann macht er eine Wende und sagt, dass Josef, weil er den Mundschenk bat, ein gutes Wort für ihn einzulegen und Haschem nicht ausreichend vertraut hatte, er mit zwei zusätzlichen Gefängnisjahren bestraft wurde.

Wie war es wirklich? Ist Josef das Musterbeispiel des Vertrauens in den Allmächtigen, oder ist er ein Mensch, der sein Vertrauen in Menschen setzt?

Es gibt zwei grundsätzliche Denkansätze, um diese Frage zu beantworten. Raw Elijahu Lopian, der Bejt Halevi und viele weitere sind der Meinung, dass Bitachon (Vertrauen) ein relativer Begriff ist. Es ist vom Niveau des Menschen abhängig.

Zum Beispiel sagt der Ramban in Paraschat Bechukotai (Wajikra 26:11), dass die talmudische Lehre (Traktat Berachot 60a), die uns sagt, dass es erlaubt ist, sich um eine medizinische Behandlung zu bemühen, und dass Ärzte Menschen medizinisch behandeln dürfen, basierend auf dem Passuk "er muss ihn heilen lassen (der Schläger den Geschlagenen)" (Schemot 21:19), nur eine Erlaubnis für "gewöhnliche Menschen" darstellt. Jedoch Menschen, die auf einem solch erhabenem Niveau leben, dass sie ihr ganzes Vertrauen nur in den Ewigen setzen, sollten nicht zu Ärzten gehen. "Was haben Ärzte im Haus eines G-ttesfürchtigen verloren!" Sie können (und sollten vielleicht auch) sich auf Wunder verlassen, wie es heisst (Schemot 15.26): "... Wenn du auf die Stimme des Ewigen, deines G-ttes, hören… und alle seine Gesetze beobachten wirst, so werde ich keine Krankheiten… dir auferlegen, sondern Ich, der Ewige, werde dein Arzt sein." (Der Ramban sagt jedoch, dass ein gewöhnlicher Mensch, der sich in allen Angelegenheiten 'aufgrund von Naturgesetzen' verhält, einen Arzt beiziehen muss).

Auf ähnliche Weise finden wir im Traktat Berachot (35b) eine Meinungsverschiedenheit zwischen Rabbi Schimon bar Jochai und Rabbi Jischma’el bezüglich der Frage, wie ein Mensch seine Pflicht, Tora zu lernen, mit der Notwendigkeit, sich und seine Familie zu ernähren, in Einklang bringen kann. Raw Jischma’el sagt, dass ein Mensch arbeiten und regelmässige Zeiten für das Toralernen festlegen sollte. Rabbi Schimon bar Jochai sagt nein: Ein Mensch sollte sich hinsetzen und lernen, und Haschem wird ihm den Lebensunterhalt schicken. Der Talmud sagt, dass viele Leute der Lehre von Rabbi Jischmael folgten und erfolgreich waren, und andere der Lehre von Rabbi Schimon bar Jochai folgten und nicht erfolgreich waren. Das Niveau von Rabbi Schimon bar Jochai war für die Massen nicht angebracht. Es gibt Einzelpersonen, die auf diesem Niveau stehen, und ihnen wird Haschem ihren Lebensunterhalt schicken – aber dies ist nicht der übliche Brauch.

Bitachon, sagt Raw Elijahu Lopian, ist ein relativer Begriff, der vom Niveau des Menschen abhängig ist. Wenn man sich an Haschem klammert, alles für den Himmel tut und ein perfekter Zaddik (Frommer, Gerechter) ist, dann stimmt es, dass Haschem für ihn sorgen wird. Haschem wird sich um seine Krankheiten kümmern, und Er wird ihn ernähren und erhalten. Der Mensch wird keine Hischtadlut (persönlichen Einsatz, Anstrengungen) unternehmen müssen. Wenn jemand jedoch ein normaler Mensch ist, ist es ihm nicht nur erlaubt Hischtadlut für seinen Lebensunterhalt und seine Gesundheit zu unternehmen, sondern er ist verpflichtet, dies zu tun. Dies ist die Interpretation des Midrasch "Heil ist dem Mensch, der sein Vertrauen in Haschem setzt" – dies bezieht sich auf Josef. Josef war auf solch einem Niveau, dass er sein gänzliches Vertrauen in Haschem setzte. Er war ein Zaddik, eine Säule der Welt. Deshalb war er entsprechend seiner Persönlichkeit verpflichtet, kein Hischtadlut zu unternehmen. Er hätte auf seinem Niveau des Vertrauens in Haschem bleiben sollen und sich um keine menschliche Intervention (durch den Mundschenk) bemühen sollen. Für Josef war, laut Raw Lopian, eine Schwächung seines Niveaus eine Sünde, und deshalb wurde er mit zwei zusätzlichen Jahren im Gefängnis bestraft.

2. Denkweise: Die zweijährige Verlängerung der Gefängnisstrafe: Gesetz von Ursache und Wirkung

Es gibt jedoch andere, die der Meinung sind, dass die zweijährige Verlängerung der Gefängnisstrafe keine Strafe war. Josef sündigte nicht, indem er den Mundschenk um eine Intervention bat. Die andere Haltung zum obenerwähnten Midrasch ist, dass das, was wir hier sehen, die "natürliche Folge der Handlungen eines Menschen" genannt werden kann.

Dies bedeutet das Folgende: Es war für Josef in keiner Weise falsch, sich um eine menschliche Intervention zu bemühen, um seine Freiheit zu erlangen. Die zwei zusätzlichen Jahre im Gefängnis waren keine Strafe. Sie waren jedoch die natürliche Folge seiner Handlungen.

Wenn ein Mensch sich gegenüber Haschem in einer Weise verhalten möchte, die "lema’ala miDerech haTewa ist - über der Natur steht" und dies der Weg ist, wie der Mensch sich fortwährend gegenüber Haschem verhält, wird Haschem auf die gleiche Weise mit ihm verfahren. Wenn er jedoch sein Leben gemäss der Natur führt, wird auch Haschems Verhalten mit ihm gemäss der Natur sein. Der Ba’al Schem Tow sZl. bringt ein wunderschönes Gleichnis, um diesen Begriff zu illustrieren. Es steht in Tehillim (121:5): "Der Ewige ist dein Hüter, der Ewige dein Schatten zu deiner rechten Hand." Der Ba’al Schem Tow erklärt das Gleichnis: Wenn jemand seine Hand hochhebt, hebt sich gleichzeitig der Schatten seiner Hand hoch. Die Beziehung, die ein Mensch mit Haschem hat, ist wie diejenige eines Schattens. Wie immer ein Mensch sich mit G-tt verhält, so verhält G-tt Sich mit ihm.

Wenn ein Mensch sich in solch einer Weise verhält, dass er sein ganzes Vertrauen in Haschem setzt, wird die Beziehung gegenseitig sein – dieses Vertrauen wird ihm helfen. Wenn er sich jedoch wie gewöhnliche Menschen verhält, wird auch Haschem Sich so mit ihm verhalten.

Der Grund, warum Josef die zwei zusätzlichen Jahre im Gefängnis verbringen musste, war nicht eine Strafe. Vielmehr war es so, dass weil Josef so wie normale Menschen handelte und den Mundschenk bat, sich für ihn bei Pharao einzusetzen, Haschem es zuliess, dass die Natur ihren Lauf nahm. Es ist etwas ganz Natürliches, dass wenn man einen Menschen bittet, ihm eine Gunst zu erweisen, dieser Mensch es vergisst und sich zwei Jahre später daran erinnert.

Quellen und Persönlichkeiten:

Midrasch Rabba (der grosse Midrasch): Grosse Sammlung von Erklärungen und Aggadot zum Chumasch der Tanna’im (Mischnagelehrten) und Amora’im (Talmudgelehrten).

Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.

Ramban: Akronym von Rabbi Mosche ben Nachman – "Nachmanides" (1194 - 1270); Gerona, Spanien; Erez Jisrael; einer der führenden Toragelehrten (Rischonim) des Mittelalters, einer der Haupterklärer des Chumasch (fünf Bücher Moses), wie Verfasser weiterer Werke in Haschkafa (Kitwej haRamban) und Abhandlungen zum Talmud.

Rabbi Josef Dov Soloveitschik [Bejt Halevi] (1820 – 1892), Rosch Jeschiwa in Woloschin, Rabbiner von Sluzk und Brisk (Brest-Litowsk), Vater der Brisker Dynastie. Urenkel von Rabbi Chajim von Woloschin. Verfasser von div. Werken, wie Bejt Halevi (3 Teile, Responsen) und Kommentar zum Chumasch, etc.

Rav Elijahu Lopian (1876-1970), Autor von Lev Elijahu. Einer der bekanntesten Rabbiner der Mussar-Bewegung. Maschgiach (geistiger Leiter) von Jeschiwot in Chelm (Litauen), London und Kefar Chassidim (Israel).

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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