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Wisse, mit wem du es zu tun hast (Paraschat Wajischlach 5785)

Fragwürdige Botschaften von Ja'akow an Ejsaw?!

Fragwürdige Botschaften von Ja'akow an Ejsaw?!
Foto: AI Avigail

Wochenabschnitt Paraschat Wajischlach: Wisse, mit wem du es zu tun hast

Rav Frand zu Paraschat Wajischlach 5785

Ergänzungen: S. Weinmann

Weitere Artikel zum Wochenabschnitt , finden Sie hier

Zu Beginn von Paraschat Wajischlach (Bereschit 32:5) sendet Ja’akow Ejsaw folgende Botschaft: "Im Lawan garti, wa’ejchar ad ata - bei Lawan habe ich gewohnt, und bis jetzt verweilt". Unsere Weisen und auch die Kommentatoren befassen sich mit dem doppelten Ausdruck: "Wohnen und Verweilen".

Raschi bringt zwei Erklärungen von unseren Weisen: Die zweite Erklärung lautet: Das Wort GARTI besteht aus den gleichen Buchstaben wie TARJAG, der Zahlenwert beider Wörter ist 613 (Tarjag Mizwot = 613 Mizwot). "Im Lawan garti, weTarjag Mizwot schamarti – mit (dem Bösewicht) Lawan habe ich gewohnt und dennoch" die 613 Gebote eingehalten!"

Raschi interpretiert in seiner ersten Erklärung den Ausdruck "im Lawan garti" mit den Worten "Ich wurde kein Würdenträger oder angesehener Mensch, sondern blieb ein Fremder" - "garti" vom Ausdruck "Ger-Fremder". Du hast also keinen Grund, mich wegen den Segnungen deines Vaters zu hassen; denn er hat mich gesegnet ‘Sei ein Herr über deine Brüder’, und das ist nicht an mir in Erfüllung gegangen." (Midrasch Tanchuma Hajaschan 5)

Anders gesagt, sagt Ja’akow zu Ejsaw: "Ich weiss, dass du mir immer noch zürnst, weil ich die Berachot 'gestohlen" habe; aber ich will dir etwas sagen: Du musst nicht verärgert sein, weil es nicht funktioniert hat! Es ist jetzt 36 Jahre danach, und ich bin nichts anderes als ein Ausländer, ein Fremder."

Ebenso kommentiert Raschi zum Passuk (ibid. 32:6), in dem Ja’akow Ejsaw sagen lässt: "Und es ward mir Ochs und Esel": Mein Vater sagte mir (ibid. 27:28): "So gebe dir G-tt vom Tau des Himmels und von der Fettigkeit der Erde"; dieses Eigentum (Vieh und Sklaven) jedoch stammt weder vom Himmel noch von der Erde. Wiederum, das Entscheidende ist, dass die Berachot nicht funktionierten, und dass es keinen Grund für Ejsaw gibt, aufgebracht zu sein!

Wir müssen zwei Fragen stellen: Erstens erwartete Ja’akow sicher nicht, dass diese Segnungen von Jizchak sich gerade hier und jetzt erfüllen würden. Sie waren keine 'sofortigen' Berachot. Diese Berachot erfüllten sich erst Jahre später, als das jüdische Volk ins Land Kena’an zurückkehrte und es besiedelte - bis und mit der ruhmreichen Periode von Schlomo Hamelech. Es ist, wie wenn man ein Geschäft aufbaut. Jeder weiss, dass ein Geschäft in den ersten Jahren keinen Gewinn einbringt. Ein Mensch schliesst sein Geschäft nicht nach sechs Monaten, weil er "seine erste Million noch nicht verdient hat". Als Bill Gates Microsoft in einer Garage in Seattle, Washington, startete, wurde er nicht über Nacht ein Mensch mit einem Vermögen von 110 Milliarden Dollar. Hinsichtlich der langfristigen Erfüllung von Jizchaks Berachot für Ja’akow sind 36 Jahre nur ein Wimpernschlag. Was ist das also für ein Argument für Ejsaw, dass er nicht verärgert sein sollte, weil Ja’akow noch nicht die Erfüllung der Berachot seines Vaters erlebt hat? Rabbi Mosche Feinstein stellt eine tiefere Frage: Dieses Betonen gegenüber Ejsaw, dass "die Beracha nicht funktionierte" gibt den Anschein, wie wenn Ja’akow sagen würde, dass Jizchaks Segnungen - die in Wirklichkeit mit prophetischem Geist ausgesprochen wurden – nicht wahr sind! Er scheint zu sagen, dass die Beracha keinen Wert hatte. G-tt behüte, dass wir sagen, dass Ja’akow nicht mit ganzem Herzen glaubte, dass Jizchaks Berachot noch in Erfüllung gehen würden.

Das Sefer Ikwej Erew bietet eine Antwort, zu der ich eine Idee des Seforno anfügen möchte, die den Zugang noch verständlicher macht.

Die erste Regel des Redens in der Öffentlichkeit ist "kenne deine Zuhörer". Die erste Regel für Verhandlungen ist "wisse, mit wem du es zu tun hast".

In Paraschat Toldot, als Ejsaw müde vom Feld heimkam, sagte Ja’akow zu ihm: "Verkaufe mir jetzt gleich (kajom) dein Erstgeburtsrecht" (Bereschit 25:31). Der Seforno erklärt die Nuance des Wortes 'kajom': Ejsaw war ein Mensch, der für den Moment lebte, ein Mensch, der für heute lebte. Wenn solch ein Mensch hungrig ist und einen Teller Linsen essen will, will er es sofort. Er ist bereit, etwas (zum Beispiel die Bechora - das Erstgeburtsrecht), das in der Zukunft enorm wertvoll sein könnte, in diesem Moment für einen Teller Suppe zu verkaufen.

Ja’akow kannte Ejsaws Einstellung und sein Wertesystem und schlug deshalb einen "Verkaufspreis" für die Bechora vor, der für seinen Bruder attraktiv sein würde. Ja’akow wusste, dass diese Bechora nicht nur für ihn und seine Kinder von Bedeutung sein würden, sondern auch für seine Ururenkel in allen Generationen (Raschi erklärt, dass die Bechora auch den G-ttesdienst in den künftigen Generationen beinhaltet, denn im Prinzip gehört der G-ttesdienst im Tempel den Erstgeborenen). Er wusste, dass dies etwas war, das die Zukunft des jüdischen Volkes während Jahrtausenden beeinflussen würde. Zukünftige Generationen und zukünftige Jahrtausende waren für Ejsaw keine Währung. Er war gänzlich ein Mann der Gegenwart, ein Mann des "kajom (heute, sofort)". Er war nur interessiert an sofortiger Befriedigung. Wenn es nicht sofort vorhanden war, war es nichts wert.

Angesichts dieses Hintergrundes können wir Ja’akows psychologische Einstellung gegenüber seinem Bruder in der dieswöchigen Parascha verstehen. Ja’akow sagt zu Ejsaw: "Schau, Ejsaw, es sind jetzt 36 Jahre her. Nichts ist aus den Berachot geworden, die ich von dir abgekauft habe." In Ejsaws Augen sind 36 Jahre eine Ewigkeit. Er ist jetzt mehr als je überzeugt, dass er beim früheren Verkauf mehr verdient hat. Natürlich bezweifelte Ja’akow nicht die prophetischen Berachot, die Jizchak ihm zuteilwerden liess. Er wusste jedoch, dass dies eine "langfristige Investition" war, und er wusste, mit wem er es zu tun hatte. Er handelte mit Ejsaw, für den etwas, das er nicht heute gebrauchen konnte, nicht viel Wert besass.

Dies erklärt etwas Anderes. Zu Beginn der Parascha ist Ja’akow gänzlich verängstigt. Er bereitet sich auf das Treffen mit Ejsaw mit drei Dingen vor: Mit Gebeten, Geschenke und mit Vorbereitungen für einen Kampf, wie Raschi erklärt. Er hatte jedoch eigentlich eine gewisse Lebens-Versicherung. Ejsaw hatte bereits vor 36 Jahren erklärt, dass er, solange Jizchak am Leben ist, Ja’akow nicht töten würde (Bereschit 27:41). Warum also war Ja’akow so verängstigt? Jizchak war zu jenem Zeitpunkt noch am Leben!

Die Antwort ist, dass wenn man mit einem Ejsaw zu tun hat, die Laune des Moments ihn überwältigen kann. Obwohl er theoretisch vielleicht fühlte, dass "ich meinem Vater kein Leid antun will", konnte ein Ejsaw, falls er einen Moment lang in Aufregung geraten würde, beschliessen, Ja’akow an Ort und Stelle zu töten! So handeln verdorbene Leute. Sie sind ihren Launen und Leidenschaften ausgesetzt. Dass Ja’akow sich auf die Tatsache verlassen würde, dass Jizchak noch am Leben war und Ejsaw einst versprochen hatte, seinen Bruder während der Lebenszeit seines Vaters nicht zu töten, wäre waghalsig, wenn es sich um solch einen Menschen handelte.

Wir sagen diese Worte und fühlen uns selbstzufrieden. Wir sagen: "Ja, Ejsaw ist schlecht und lebt nur für das Diesseits (kajom)." Leider ist es so, dass wir alle - in grösserem oder kleinerem Ausmass - oft in unserem Leben Kompromisse schliessen, da wir im "Diesseits" leben und die langfristige Zukunft und sicherlich die Ewigkeit nicht so ganz berücksichtigen. Die Tatsache ist, dass viele Menschen einen grossen Teil ihrer Zeit, Sorgen und Anliegen in die weltlichen Dinge des Lebens investieren – sei es Geld, Karriere, Häuser oder all die Dinge, die uns anlocken. Wir treffen Entscheidungen, Dinge, die die Ewigkeit betreffen, für weltliche Dinge aufzugeben. Wie viele Leute realisieren, wenn sie 40, 45 und 50 Jahre alt und ihre Kinder schon erwachsen sind, dass sie die ersten 20, 25 oder 30 Jahre ihres Lebens in ihre Karriere auf Kosten ihrer Kinder verbracht haben? Wenn sie schliesslich "aufwachen" und sagen, dass sie etwas mit ihren Kindern tun wollen, sind die Kinder schon aus dem Haus und der Zug ist abgefahren. Dies ist ein Fall von Menschen, die sich für das "kajom" (Diesseits) anstatt des "Nizchiut" (die Ewigkeit) entschieden haben.

Wir können also nicht selbstgefällig sagen: "Ah! Dies ist ein Ejsaw. Ein Ejsaw verkauft die Bechora für einen Teller Suppe. Ein Ejsaw gibt das Olam Haba (die künftige Welt) für das Olam Hase (diese Welt) auf." Wir müssen uns fragen, wie oft wir uns derselben Haltung schuldig machen. Wir müssen die langfristige Sicht des Lebens in Betracht ziehen. Wir müssen Ja’akows Einstellung verinnerlichen.

Quellen und Persönlichkeiten:

Midrasch Tanchuma Hajaschan (Ausgabe Schlomo Buber): Sammlung von Erklärungen und Aggadot zum Chumasch. Wird nach dem Amora (Talmudgelehrten) Rabbi Tanchuma Bar Abba benannt, da er am häufigsten in diesem Midrasch zitiert wird. Er war ein jüdischer Amora der 5. Generation, einer der bedeutendsten Aggadisten seiner Zeit.

Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.

Seforno: Rabbi Ovadia ben Ja’akov Seforno (1470 – 1550); Rom und Bologna, Italien; klassischer Chumasch-Kommentator.

Rabbi Mosche Feinstein (1895 - 1986): Usda (Weissrussland), Ljuban (Russland), New York (USA). Er war ein weltberühmter Rabbiner, eine führende halachische Kapazität, und zu seinen Lebzeiten de facto die höchste rabbinische Autorität (Gadol Hador) der Orthodoxie Nordamerikas. Er war auch der Rosch Jeschiwa der Mesivta Tiferet Jeruschalajim, New York.

Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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