Gedanken zu Paraschat Nasso und Schawuot 5784
Übersetzt und bearbeitet von Herrn Gill Barnea, Düsseldorf
Die Kraft des Priestersegens
“Sprich zu Aharon und seinen Söhnen, und sage ihnen: “So sollt ihr die Kinder Israels segnen, indem ihr zu ihnen sagt…” [6:23]
Was ist im Allgemeinen die Kraft eines Segens, der von einem anderen Menschen erteilt wird? Und was ist insbesondere die Kraft des Priestersegens (hebr. Birkat Kohanim)? Rabbi Menachem Mendel Schneerson, s.A. (1789-1866, dritter Lubawitscher Rebbe, bekannt als der “Zemach Zedek”) erklärt:
Der Talmud [Traktat Bejza 16a] lehrt, dass der Lebensunterhalt eines Menschen für das ganze Jahr an Rosch Haschana festgelegt wird. Doch eine andere Stelle im Talmud [Rosch Haschana 16a] – nach der Meinung von Rabbi Jossi – besagt, dass die Menschen jeden Tag gerichtet werden. Tatsächlich sind wir dazu verpflichtet – nach allen Meinungen – jeden Tag für unseren Lebensunterhalt zu beten. Warum ist das so, wenn wir schon an Rosch Haschana gerichtet worden sind?
Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs besteht darin, dass der Mensch auf verschiedenen Ebenen existiert: Der Mensch besteht nicht nur aus seinem physischen Körper; seine Seele ist durch eine Art “Versorgungsschlauch” mit einer spirituellen Wurzel im Himmel verbunden. Was nicht an Rosch Haschana festgelegt wird, ist, wie tief dieser “Versorgungsschlauch” hinunterreichen soll. Um den Lebensunterhalt in diese physische Welt herunterzubringen, müssen wir beten.
Der “Zemach Zedek” fährt fort: Die Schwierigkeit besteht darin, dass wenn der Mensch versucht, seinen Lebensunterhalt durch Gebete auf diese Welt zu befördern, er wiederholt gerichtet wird, während der Lebensunterhalt von einer spirituellen Welt in die nächste durchgereicht wird. Dies ist aber nicht so, wenn der Mensch einen Segen bekommen hat – insbesondere von einem Kohen (Priester).
Aharon Ha’Kohen (der Hohepriester Aharon) verkörperte die Eigenschaft eines überaus wohltätigen Menschen (hebr. Rav Chessed). Wie ein überlaufendes Glas, bewirkt ein Segen von Aharon und seinen Nachkommen (und zu einem gewissen Grad auch von jeglichem anderen Menschen) das regelrechte „Herunterregnen“ von himmlischer Wohltätigkeit, ohne dass sie zwischen den jeweiligen Ebenen der spirituellen Welt aufs Neue überprüft und gerichtet werden muss.
Diese Eigenschaft von Aharon wird auch im Vers [Bamidbar 17:23] reflektiert: “Der Stab Ahorns…spriesste; er brachte eine Blüte hervor, bildete Knospen, und Mandeln reiften.” Die Zeitspanne zwischen der Mandelblüte und dem Reifen der Früchte ist sehr kurz – genau wie der Priestersegen zügig Früchte trägt. [Derech Mizwotecha: Mizwat Birkat Kohanim]
Quelle:
Torah.org (5773 / 2013). Rubrik “Hama’ayan”.
http://www.torah.org/learning/hamaayan/5773/naso.html
Die Essenz des “Nasir”
Eines der Gebote in der aktuellen Parascha ist jenes des “Nasir”. Der Abschnitt wird mit den Worten eingeleitet: “Isch o Ischah ki jafli – ein Mann oder eine Frau, der (oder die) „jafli“ – ausspricht das Gelübde eines Enthaltsamen…” – Rabbi Awraham ibn Esra, s.A. (1089-1164) stellt fest, dass der Ausdruck “jafli” auch heissen kann: “Jemand, der Wunder bewirkt.” Er erklärt, dass ein “Nasir”, der sich vom Weingenuss absondert, etwas Wundersames tut – im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Menschen, der sich vom Streben nach Genuss leiten lässt.
Der „Lew Simcha“ – Rabbi Simcha Bunim Alter, s.A. (1898-1992, fünfter Gerrer Rebbe) fügt hinzu, dass der Abschnitt über den “Nasir” uns lehrt, wie G-tt einem Menschen behilflich ist, der es sich zum Ziel macht, sich zu bessern. Ein “Nasir” zu werden, ist in der Tat eine wundersame Sache. Schliesslich ist es fast unmöglich, unter Menschen zu sein, die gewöhnlichen Genüssen nachgehen, ohne daran teilzunehmen. Und trotzdem – weil der “Nasir” es sich ernsthaft vornimmt, anders zu sein – hilft ihm der Allmächtige. Der Gerrer Rebbe fügt hinzu: Dasselbe trifft auf jeden Menschen zu, der sich verändern möchte. Sobald man sich ernsthaft vornimmt, sich zu verändern – selbst, wenn diese Veränderung unmöglich erscheint – wird der Allmächtige helfen.
Der aktuelle Wochenabschnitt wird fast immer am Schabbat nach dem Schawuot-Fest (gelegentlich vor dem Schawuot-Fest) gelesen. Die Idee, dass Haschem unser ernsthaftes Engagement begehrt, ist eng verbunden mit dem Fest der Übergabe der Thora. Warum? Die “Tossafot” zum Talmud-Traktat “Awoda Sara” [3a] lehren, dass obwohl uns gesagt wird, dass Himmel und Erde ausschliesslich existieren können, wenn wir die Thora studieren, es eigentlich unser ernsthafter Einsatz (d.h. unsere Hingabe) zum Thora-Studium ist, das die Welt am Laufen hält – mehr noch als das Studium selbst. [Pardes Jossef]
Quelle:
Torah.org (5773 / 2013). Rubrik “Hama’ayan”.
http://www.torah.org/learning/hamaayan/5773/naso.html
Eine Geschichte zu Schawuot
Warum der Rebbe das Lehrhaus verliess?
Der Bobover Rebbe, s.A. (Rabbi Schlomo Halberstam, 1907-2000) besass eine aussergewöhnliche Sensibilität für die Gefühle anderer Menschen. Ein Jude, der in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in New York lebte, erzählte die folgende Geschichte:
“Es war der erste Abend des Schawuot-Festes. Ein Freund und ich gingen die Strassen auf und ab und suchten einen Bejt haMidrasch (jüdisches Lehrhaus). Wir stolperten über das Bejt haMidrasch des Bobover Rebben und gingen hinein. Der Rebbe war gerade dabei, den Tikun Lejl Schawuot (das traditionelle Lernen in der Nacht von Schawuot) zu lesen.
“Jede Stunde bemerkte ich, wie der Rebbe von seinem Stuhl aufstand und das Lehrhaus verliess, aber nach etwa zehn Minuten wiederkam. Mein Freund, der noch nie in einem chassidischen Lehrhaus gewesen war, fragte mich, weshalb der Rebbe immer wieder aufstand. Er wollte wissen, ob es sich um einen chassidischen Brauch handelte – doch ich wusste keine Antwort.
“Nach Schacharit (dem Morgengebet) lud uns der Rebbe zum Kiddusch (Segenspruch über den Wein, in der Regel verbunden mit einem Imbiss) ein. Mein Freund, dessen Neugier nicht zu bremsen war, befragte den Rebben nach dessen ungewöhnlichem Brauch.
“Der Rebbe antwortete: ‘Ich habe erkannt, dass es für viele Menschen schwer sein muss, die ganze Nacht im Lehrhaus zu verbringen [wie es in der ersten Nacht des Schawuot-Festes üblich ist] und viele würden gerne nach Hause gehen und sich ausruhen. Doch wenn sie mich sehen – den Rebben – wie ich ihnen gegenübersitze, könnten sie sich möglicherweise beschämt fühlen, zu gehen. Aus diesem Grund verlasse ich das Lehrhaus zu Beginn jeder Stunde für zehn Minuten, damit sie sich nicht zu schämen brauchen. Im Gegenteil: Es wird ihnen sogar möglichst leicht sein, zu gehen – mit dem Argument: Wenn der Rebbe das Lehrhaus verlässt, können sie es auch.'”
Zur Person:
Rabbi Schlomo Halberstam (1907-2000) war der dritte Bobover Rebbe. Er initiierte die Neugründung der Bobover Dynastie in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem sein Vater dem Holocaust zum Opfer gefallen war. Er wurde vor allem als spiritueller Anführer bekannt, der sich von jeglicher Streitigkeit (hebr. Machloket) fernhielt.
Quelle:
Goldberg, Mattis (2006). Gedolei Yisroel – Portraits of Greatness
(The Story Behind The Picture). Feldheim Publishers
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Die Bearbeitung der Gedanken dieser Woche erfolgte durch Herrn Gill Barnea, Düsseldorf – barnea@me.com
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