Perspektiven zum Schabbat-Projekt
Warum heiligen wir den Schabbat auf einen Becher Wein?
Aus: Die Jüdische Zeitung, 21. Schewat 5777 / 17. Februar 2017
Überarbeitet und ergänzt von S. Weinmann
Das vierte Gebot der zehn Gebote beginnt mit folgenden Worten (Schemot 20,8): “Sachor et jom Haschabbat lekadescho – Gedenke den Tag des Schabbats zu heiligen.”
Obwohl der Schabbat aus verschiedenen Mizwot (Ge- und Verbote) besteht, unterscheidet sich die Pflicht der ‚Schabbat-Heiligung‘ von den anderen Ge- und Verboten des Schabbats. Der Talmud in Pessachim 106a erklärt, dass der Kiddusch dieses ‚Gedenken‘ des Schabbats zum Ausdruck bringt, denn es steht im Passuk: „Gedenke des Schabbat-Tages, ‚Lekadescho‘ – ihn zu
heiligen.“ Wir wurden dabei angewiesen, den Schabbat mit dem Weinbecher zu heiligen. Die
Heiligung des Schabbats ist also eine Pflicht für uns Jehudim. Mit dem Sprechen des Kiddusch (Heiligung) erfüllen wir unsere Pflicht/die Mizwa den Schabbat zu heiligen.
Der Rambam (Maimonides) ist sogar der Meinung, dass auch die Heiligung des Schabbats am Moza’ej Schabbat (Ausgang des Schabbats) durch die Hawdala eine Pflicht von der Tora ist. Denn dadurch, dass wir den Unterschied zwischen dem Schabbat und den bevorstehenden Wochentagen bekanntgeben, drücken wir aus, dass es sich beim Schabbat um einen heiligen Tag handelt.
Auch lehrt uns die Gemara (Talmud Traktat Berachot 20b), dass Frauen von der Tora aus verpflichtet sind, beim Schabbat-Eingang den Kiddusch zu sprechen, obwohl sie normalerweise von den Mizwot Assej (Gebote), die zeitbedingt sind, befreit sind (bei Verboten, gibt es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, nur bei den Geboten).
Der Grund ist folgender: Die Einhaltung des Schabbats wird in den Asseret Hadibrot (zehn Gebote), die in der Thora zweimal stehen (in Paraschat Jitro und Paraschat Wa’etchanan) unterschiedlich zum Ausdruck gebracht. Hier, in Paraschat Jitro steht beim Schabbat: “Sachor/Gedenke den Schabbat, ihn zu heiligen”, das bedeutet, dass die Einhaltung des Schabbats durch ein Gebot/Mizwat Assej ausgedrückt wird. Hingegen in Paraschat Wa’etchanan (Dewarim 5,12) steht “Schamor/Hüte den Schabbat, ihn zu heiligen”. Das bedeutet, dass die Einhaltung des Schabbats durch Verbote/Mizwat Lo Ta’assej ausgedrückt wird.
Also, das erste Mal (in Jitro), werden wir aufgefordert den Schabbat mit einer Tat zu heiligen und das zweite Mal (in Wa’etchanan), sollen wir durch Unterlassen von gewissen Tätigkeiten den Schabbat heiligen. Nun, da die wir die Asseret Hadibrot ja nur einmal von G-tt vernommen haben, was hat uns G-tt wirklich gesagt: “Sachor/Gedenke den Schabbat” oder “Schamor/Hüte den Schabbat”? Der Talmud leitet davon ab (Traktat Schewuot 20b), dass beide Ausdrücke in einem Ausspruch von G-tt gesagt wurden (was ein Mensch natürlich unmöglich machen kann).
Chasa”l (unsere Weisen) entnehmen davon, dass Sachor und Schamor zusammenhängen. Das bedeutet, dass all diejenigen, die angewiesen wurden, den Schabbat zu hüten, sprich keine Schabbat-Verbote zu übertreten – also auch Frauen – auch die Pflicht haben, den Schabbat zu gedenken, sprich Kiddusch zu machen, auch wenn es sich bei dieser Mizwa um ein Gebot handelt, das zeitbedingt ist.
Alle Posskim (Dezisoren) sind sich einig, dass die Pflicht der Schabbat-Heiligung beim Schabbat-Eingang eine Mizwa (Pflicht) von der Tora ist. Die Meinungen der Posskim gehen aber darüber auseinander, ob man diesen Kiddusch von der Tora aus unbedingt über einen Becher Wein sprechen muss, oder ob der Kiddusch (Baruch ata… Mekadesch Haschabbat), der in der Schemone Essre (Tefilat Amida) gesagt wird genügt und der zusätzliche Kiddusch, den wir über den Becher Wein sprechen, nur von den Rabanan (Weisen) angeordnet wurde.
Nun können wir uns aber fragen, warum es überhaupt eine solche Pflicht gibt. Die Tatsache allein, dass die Heiligung des Schabbats in die Hände von Menschen gegeben worden ist, ist schon merkwürdig genug. Wie kommt es aber, dass wir diese Heiligung über einen Becher Wein vollziehen müssen? Diese Schabbat-Heiligung betrifft doch eher die Neschama (Seele) und nicht den Körper.
Der Tiferet Jisrael zur Mischna im Traktat Berachot (8.1) beantwortet unsere Frage mit einem Gleichnis:
Ein wohlhabender Geschäftsmann muss frühmorgens zu einer wichtigen Geschäftsreise aufbrechen. Er hätte gerne, dass sein Diener früh aufsteht, um die Kutsche mit den Pferden für die
Reise bereitzumachen und um alle Gepäckstücke aufzuladen. Jedoch muss er feststellen, dass der Diener noch tief schläft, obwohl er seiner Pflicht nachkommen sollte. Dies ist aber ist kein Wunder. Für den Geschäftsmann ist diese Geschäftsreise mit einem grossen Gewinn verbunden und je früher er auf dem Markt eintrifft, desto bessere Geschäfte wird er abschliessen. Das frühe Aufstehen war für ihn deshalb keine Anstrengung, denn er hatte den Ansporn dazu, nachdem es sich für ihn um eine wichtige Geschäftsreise handelt.
Bei seinem Diener ist es jedoch ganz anders. Für ihn spielt es absolut keine Rolle, ob er die Reise nun früh oder spät antritt. Er erhält seinen mageren Monatslohn, so oder so. Warum sollte er also früh aufstehen? Er schläft demnach tief und fest.
Wie handelt ein kluger Herr in so einer Situation? Er geht hin und bereitet seinem Diener ein leckeres Frühstück mit süssen Getränken vor. Danach weckt er den Diener und gibt ihm bekannt, dass es sich für ihn lohnt, früh aufzustehen, da auf ihn Gaumenfreuden warten. Der Diener springt auf und der Herr mit seinem Diener setzen sich zum leckeren Frühstück. Und nun kann der Herr mit Leichtigkeit seinen Diener zur Vorbereitung der Reise anspornen. So hat der Geschäftsmann mit Weisheit sein Ziel erreicht und wird sich bald auf seiner wichtigen Reise befinden.
Schabbat bedeutet für unsere Seele ‚eine wichtige und erhabene Reise‘. Eine Reise in höheren und heiligeren Sphären. Die Freude darüber ist gewaltig, jedoch hat Ihr ‚Diener‘ – der irdische Körper – absolut kein Interesse daran. Er möchte seine Zeit lieber mit Schlafen und nutzlosen Dingen verbringen. Wir nehmen deshalb einen mundenden Becher Wein und sprechen den Kiddusch darüber. Nun freut sich auch der Körper auf den Schabbat und ist gerne bereit, sich der ruchniutdigen (geistigen) Reise anzuschliessen. Wir erwecken im Körper das Interesse am Schabbat und begeben uns mit Körper und Seele in eine höhere geistige Sphäre.
Der Tif’eret Jisrael erklärt damit die zwei Meinungen in der Mischna, ob man beim Kiddusch am Schabbat-Abend zuerst die Beracha über den Wein oder zuerst die Beracha über den Schabbat sprechen soll. Während Bejt Schamai der Meinung sind, dass die Beracha über den Schabbat der wichtigste Teil der ‚Schabbat-Heiligung‘ ist und deshalb den Vortritt hat, erklären Bejt Hillel, dass man zuerst die Beracha über der Wein sprechen muss, um das Interesse des Körpers zu wecken, dass er bereit ist, sich der Neschama anzuschliessen und den Schabbat mit ihr zusammen zu feiern.
Quellen und Persönlichkeiten:
- 1. Rambam, Rabbi Mosche ben Maimon (Maimonides) (1135 – 1204), einer der bedeutendsten Rischonim, seine Hauptwerke sind: Das umfassende Werk zum jüdischen Recht „Mischne Tora-Jad Hachsaka“, Erklärung zur Mischna und „Moreh Newuchim (Führer der Unschlüssigen)“, Spanien, Aegypten, Israel.
- 2. Rabbi Jisrael ben Gedaljahu Lifschitz (1782–1860); Dessau, Danzig, (Königreich Preussen). Er war ein führender aschkenasischer Rabbiner des 19. Jahrhunderts und Verfasser vom sehr bekannten und klassischen Mischna-Kommentar Tifereth Jisrael (Jachin und Boas).
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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