Wochenabschnitt Paraschat Acharei Mot: Die Botschaft der Verlosung der zwei Ziegenböcke
Rav Frand zu Paraschat Acharej Mot 5784 – Beitrag 1
Ergänzungen: S. Weinmann
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Ein beträchtlicher Teil des Tempeldienstes von Jom Kippur galt dem Ritual der “Schenej Se’irim” (zwei Ziegenböcke). Zwei Ziegenböcke wurden gebracht und wurden “vor dem Ewigen beim Eingang des Stiftszelts hingestellt”. Der Kohen Gadol (Hohepriester) musste zwei “Goralot” (Lose) ziehen, wobei ein Ziegenbock für Haschem und der andere für “Asasel” bestimmt wurde. Der erstere wurde geschlachtet, sein Blut wurde im Allerheiligsten, vor dem Parochet (Vorhang) und auf den goldenen Misbeach (Altar) gesprengt, danach wurden seine Fettstücke auf dem grossen (kupfernen) Misbeach und der Rest des Fleisches ausserhalb des Lagers, verbrannt. Der letztere wurde von einer entlegenen Felswand in der Wüste hinuntergestossen. Dieses Jom Kippur-Ritual, ein Korban (Opfer) durch ein Los (Goral) zu bestimmen, ist im Tempel-Ritus einzigartig.
Der Akejdat Jizchak bringt eine wunderschöne Erkenntnis zu diesem Begriff des ‘Goral’; in der Zukunft werden wir alle Rechenschaft ablegen müssen für das, was wir in dieser Welt getan oder nicht getan hatten. Menschen haben verschiedene geistige Eigenschaften, unterschiedliche Stärken und Schwächen in Angelegenheiten der Seele. Es gibt Studenten, die stundenlang ohne Unterbruch lernen können. Sie haben die Geduld, den Verstand und das geistige Streben, in einem Bejt Hamidrasch (Lehrhaus) zu sitzen und ununterbrochen zu lernen.
Diese Tendenz hat eine Auswirkung auf die Erfahrung, das Mass an Erfolg und die Errungenschaften eines Menschen in den Jahren, die er in einer Jeschiwa verbringt. Sie wird weiterhin sein Niveau im Lernen und sein Mass an Wissen und Geistigkeit beeinflussen, die er während seinem ganzen Leben erwirbt. Wir werden alle für unsere Handlungen verantwortlich gemacht werden. Der fleissige Lerner wird – nach 120 – in Olam HaEmet (Welt der Wahrheit) eingehen und eine Belohnung für all die Stunden und Jahre erhalten, die er mit dem Lernen der Tora verbrachte, obwohl es ihm relativ leichtfiel. Die Frage stellt sich: Was ist mit dem Mensch, der nicht die Geduld besass, sich hinzusetzen und zu lernen? Wird er für etwas bestraft werden, wofür er offensichtlich nicht die Geduld und den Lerneifer bekam, das erhabene Ziel zu erreichen?
Dieselbe Frage kann auch bezüglich anderer menschlicher Charaktereigenschaften gestellt werden. Manche Menschen sind von Natur aus sehr ruhig und gelassen. Man kann sie nicht leicht erzürnen. Wegen ihrem natürlichen Temperament verlieren sie nie ihre Beherrschung. Andere Menschen sind jedoch nicht so. Sie fahren aus dem Haus. Sie haben keine Geduld. Sie haben einen nervösen Charakter und sie regen sich oft sehr auf. Ist es wirklich ‘gerecht’, dass sie nach 120 Jahren dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie bei allen Stress-Situationen im Leben nicht so ruhig und gelassen waren wie die Menschen, die mit einem ruhigen Charakter und einer gelassenen Veranlagung geboren wurden?
Die Antwort ist, dass der Herr der Welt all dies berücksichtigt. “Hazur Tamim Poalo – Der Fels, perfekt ist Sein Werk” (Dewarim 32:4). Die Gerechtigkeit, die Er bestimmt, ist perfekt. Jeder erhält seine angemessene Belohnung und Bestrafung, welche die Faktoren seiner jeweiligen Erziehung und seinem angeborenen Charakter in Betracht ziehen. Wir müssen uns nicht sorgen, dass wir dem Massstab eines anderen Menschen entsprechen müssen. Der Allmächtige weiss, dass Menschen verschiedene Naturen haben und ganz verschieden auf Dinge reagieren. Der wahre Richter wird mit wahrer Fairness urteilen.
Dies ist die Botschaft der zwei Ziegen und die damit verbundene Ziehung der Lose. Das Wort ‘Goral’ in Hebräisch bedeutet zwei Dinge. Es bedeutet ‘Los’, aber es bedeutet auch ‘Schicksal’. Am Jom Kippur handelt es sich um Teschuwa und Verzeihung. Der Allmächtige sendet uns mit dem Ritual der Ziehung der Lose für die Ziegen eine Botschaft. Wir müssen uns die Frage stellen: Warum geht diese Ziege zu Haschem und die andere zu Asasel? Es ist nicht ihr Fehler! Dies ist das Resultat der Verlosung, und dies ist ihr Schicksal. Haschem nimmt alles in Betracht.
Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass wenn ein Menschen Probleme mit dem Lernen hat, er befreit ist, sich anzustrengen, oder dass wenn ein Mensch jähzornig ist, er das Recht hat, aus der Haut zu fahren, und sich nicht um geistige Konsequenzen kümmern muss. Nein, dies ist nicht so! Andererseits bedeutet es auch nicht, dass ein Mensch gemäss einem allgemeinen Standard beurteilt wird, ohne dass verschiedene Unterschiede der Charaktere und natürliche Tendenzen in Betracht gezogen werden. Dies ist die Botschaft der Verlosung, die bestimmt, dass eine Ziege zu Haschem geht und die andere zu Asasel.
Quellen und Persönlichkeiten
Akejdat Jizchak (auch Ba’al Akejda genannt) von Rabbi Jizchak ben Mosche Arama (1420-1494). Spanischer Gelehrter. Zamora, Tarragona, Aragon, Calatayud (Spanien). Zog nach der Vertreibung von 1492 nach Neapel und verschied dort. Schrieb berühmten philosophischen Kommentar auf die Tora, wie auch auf die fünf Megillot, etc.
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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
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